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Kommunikation unter Verdacht
Versuche über allzu Menschliches
von Franz Witsch

Versuch einer Annäherung an Jürgen Habermas
Hamburg, 21.08.2004

Was? Da beschäftigt sich schon wieder einer mit Kommunikation, einem Thema, das schon tausend mal hin und hergedreht wurde, im Grunde seit es reflektierende Menschen gibt, und nun soll das ein weiteres mal aufgewärmt werden? Ist da nicht schon alles gesagt? Philosophen von Welt wie Habermas haben ein Leben lang über Kommunikation nachgedacht und ...
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Zeichen, Sprache und Moral
Hamburg, 21.08.2004

Was das Verhältnis von menschlicher Praxis und Theorie betrifft, so stehen sich da nicht zwei Dinge gegenüber, die man säuberlich voneinander trennen könnte. Denken ist immer auch praktisch und scheitert oft genug, wenn man Naheliegendes zwangsneurotisch übersieht, geschweige denn ...
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Vernunft als Organisationsprinzip oder wie rational ist Rationalität
Hamburg, 21.08.2004

Habermas versucht, den formalsemantischen Zugang zur Philosophie hineinzuziehen in sein Boot des gesellschaftspolitischen Engagements, um, nach seinem Verständnis, Blickerweiterung bei Sprachphilosophen zu bewirken. Bleibt die Frage, .... wer hier welchen Blick erweitert oder ob nicht gar gemeinsame Verengungen stattfinden. Aber es ist schön, wenn man sich auf Gemeinsamkeiten verständigt und darüber vielsagende Blicke austauscht. Zuweilen geht so was auch schief; dann will der eine oder andere nicht so recht, und dann benimmt man sich schon mal wie ein enttäuschter Liebhaber.

Bei Habermas sind Rationalität und Rationalisierung zentrale Begriffe der Gesellschaftsanalyse, wobei letzterer für Bewegung im menschlichen Denken steht, das in der sozialen Realität seine Entsprechung findet auf der Basis gemeinsamer Geltungsansprüche, die auszuhandeln sind nach dem oben erwähnten Sprecher-Hörer-Modell. Dieses Modell finden wir auch bei Tugendhat. Es setzt mindestens zwei Handlungsteilnehmer voraus, die in Rede und Gegenrede sich erstens auf ein gemeinsames Verständnis von Realität verständigen und zweitens, auf Basis dieser Gemeinsamkeit, weitere Geltungsansprüche im Sinne von Handlungszielen formulieren. Dieses alles materialisiere sich letztendlich in sozialer Realität, bzw. konstituiere gesellschaftliche Rationalisierung. Kurz: dort, wo Menschen sind, findet Rationalisierung statt. Bei Tugendhat war dies noch Sprechen und Sprache. Und Habermas kommt Tugendhat entgegen mit einer schönen Sprachfigur: Rationalisierung sei immer gehalten sich durch das Nadelöhr sprachlicher Verständigung hindurch zu bewegen. Sprache als Medium, das für Lebensbewältigung steht: ein Stück Rationalität. Das ist doch schon mal was. Sprachpragmatik – Studium der Sprache, um zu erkennen, dass Sprache als Ausdruck regelgeleiteten Handelns ein Überlebensmittel ist, dass Menschen mit Sprache ihr Leben immer schon bewältigt haben und bewältigen müssen. Sonst wären sie als Menschen gar nicht mehr da. Da ist es doch gut, dass wir alle sprechen können, durch Sprache auf Lebensbewältigung gepolt sind. Irgend wann wird das schon seine Wirkung zeitigen.

Wie aber verschleiern, dass man sich mit toten Abstraktionen herumschlägt? Indem man Geschichte befragt, wie sonst. Die erzählt bekanntlich, wohin es geht. Habermas greift da weit zurück in eine Zeit, als Menschen noch wild vor sich hinrationalisierten. Das wilde Denken, sagt er, basiere auf dem mythische Weltbild und erlaube keine Handlungsorientierung, die "nach den üblichen Maßstäben als rational" bezeichnet werden dürfe. Da fragt sich doch gleich, was "unter üblichen Maßstäben" verstehen? Ohne diesen Zusatz ist der Begriff "rational" nichtssagend abstrakt, wobei der Zusatz seinerseits wiederum so unbestimmt, dass er an dem Grad der Abstraktion nichts wirklich ändert. Der Gebrauch dieses Zusatzes will womöglich einschränkend andeuten, dass es einen rein formalen Maßstab in Wirklichkeit nicht gibt; Aussagekraft grundsätzlich gehalten ist, auf ein real wahrnehmbares, zurechenbares Konkretikon zu zeigen. So das Messen von räumlicher Entfernung notwendig auf einen wohl fixierten und irgendwo hinterlegten Abstand zwischen zwei Punkten verweist (Urmeter bei Paris). So der Preis einer Ware auf den Maßstab Arbeitszeit, der sich in einer Ware manifestiert, auf die Menschen sich als allgemeines Austauschäquivalent verständigt haben müssen, – reales Konkretikon und systemischer Kern (in langen Epochen kaum wahrnehmbar, geschweige denn reflektierbar), um den herum sich Vergesellschaftung – sprich: die Möglichkeit rechenbarer Erwartungshaltungen – hinter dem Rücken der Gesellschaftsteilnehmer entwickelte, so Marx gleich zu Anfang im ersten Band seines Kapitals im Abschnitt über “Ware und Geld”.

Habermas (er kennt Marx zu wenig, vor allem nicht den zweiten und dritten Band des Kapitals, gleichwohl er ihm gönnerhaft Genialität bescheinigt) postuliert aber einen rein formalen Maßstab, an dem Handeln und Denken zu messen sei. Beziehungsweise es scheint ihm schwer zu fallen, ein Konkretikon plausibel zu formulieren, an dem Rationalität sich empirisch einlösbar messen ließe. Dafür vielleicht mehr als tausend Seiten, die womöglich auch nie ganz ein schlechtes Gewissen beruhigen können, das Adjektive wie "formalpragmatisch" anzeigen. Doch allein der Akt einer ergänzenden Benennung, die Substantielles anzeigen soll (z.B.: alle Menschen lösen zu allen Zeiten ganz "pragmatisch" Probleme, die sie mit sich und der Natur haben), macht die Sache nicht besser, verrät nur Unsicherheit, die in unklaren, bald ausladenden sprachlichen Konstruktionen zum Ausdruck kommt, was Präzision mehr suggeriert als wirklich einlöst.

Habermas bewegt sich in den Grenzen des hermeneutisch-phänomenologischen Deutelns, des akribischen Erfassens dessen, was in der Welt der Fall ist, der system-funktionalistischen Bestimmungen und engt den Begriff der Wahrheitssuche dadurch ein, indem er außer acht lässt, dass und inwiefern Input-Output-Relationen eben nicht neutral, sondern bestandsverändernd auf systemische Entitäten (Automaten, soziale Körper, etc.) wirken und dadurch Wahrheit als solche konterkariert wird, nur als eine von Wahrscheinlichkeit entwickelt werden kann. Begriffe zeigen, klassifizieren, repräsentieren systemische Bezüglichkeiten, sie benennen das, was ist, was worauf und wohin zielt oder was man dafür hält und stehen für die Fähigkeit zu abstrahierendem Denken als sozialen Prozess. Das mit dem sozialen Prozess wissen wir seit Hegels Parabel von der Beziehung zwischen Herr und Knecht in seiner Phänomenologie des Geistes – wenn auch vom Kopf auf die Füße gedreht, denn bei Hegel sind nicht konkrete Menschen in ihren konkreten Beziehungen am Werk, sondern ein Geist, der Menschen machen lässt: notwendig als Herr und notwendig als Knecht; dies zwei Seiten ein und derselben Medaille, eines systemischen Ganzen, das lebt.

Schlechtes Gewissen macht geschwätzig. Das zeigt sich auch in der Behandlung des zentralen Begriffs "Weltbildrationalität", der später zu dem der Lebensweltrationalität der Moderne, als Gegengewicht zur Systemrationalität, mutiert. Bei der Beschreibung von sozialer Realität kommt man nicht umhin, sich systemtheoretischer Begriffe zu bedienen, wie in der ökonomischen Theorie von Marx angelegt. Nur dürfen sie nicht suggerieren, dass wir in unserer Ökonomie es mit einem in sich naturwüchsig organischen System zu tun haben, das halt wächst wie es wächst und sich irgendwann mal überlebt. Das tut es, weil bestimmte gesellschaftliche Kräfte mit ganz bestimmten Interessen es nicht anders wollen, dass es zugrunde geht, d.h. Grenzen unentwegt unvorhersehbar gesprengt werden.

Da hat es keinen Sinn, verbittert auf eine “wildgewordene” Systemtheorie Luhmannscher Prägung einzuschlagen, ohne zu merken, dass man zur Beschreibung von sozialer Realität sich systemischer Begriffe ebenso unreflektiert bedient und zunehmend im Luhmannschen Fahrwasser schwimmt – mit der unbedeutenden Einschränkung, dass es für Habermas noch eine Lebenswelt gibt, die gehalten ist, sich gegen systemische Unterdrückung zur Wehr zu setzen. Leben gegen System. Ja, das böse System. Wärme gegen Kälte. Hört sich ja tatsächlich ganz gut an. Wer ist da nicht auf der Stelle auf der Seite der Wärme? Aber auch Systemwelten sind von Menschen bevölkerte Welten, die leben.

Weltbilder, die systematisch, rationalisierend deuteln, gibt es, so Habermas, seit es sprechende Menschen gibt. Hier entlang legt Habermas die sprachanalytische Schleimspur, auf die er Sprachphilosophen glaubt locken zu können. Und wie sollte eine sprachanalytisch formulierbare Rationalität auch nicht verlockend sein? Die womöglich universell in menschlicher Wahrnehmung und sprachlicher Kommunikation von allem Anfang an enthalten ist. Also auch im sogenannten mythischen Weltbild des wilden Denkens. Alles ist, wie die alten Griechen schon sagten, irgendwie rational und treibt einem der Welt inhärenten oder außer ihr seiendem Ideal zu, das es, so Platon, als grandiose Idee gleichwohl über der Welt, als Ideen den Dingen gegenüber gibt, um ihnen Form einzuhauchen, d.i. das Schöne und Gute und Nützliche gebären. Da ist der Begriffssyllogismus der Aufklärung angelegt (der Welt eine begriffliche Ordnung applizieren), der im deutschen Idealismus der Nachaufklärung immer noch legendäre Blüten trieb, heute als sprachanalytische Verrenkungen, immer schön von hinten durch die Brust ins Auge. Schön und gut. Das moderne Denken ist aber noch rationaler als alles vorangehende Denken. Habermas sieht ein Stufenkonzept zunehmender Rationalität am Werke; er wandelt das später ontogenetisch, in Anlehnung an Piaget, um in ein Stufenkonzept kommunikativer Kompetenz. Da gebiert ein Begriff den nächsten. Und irgendwie ist in jedem darauffolgenden Konstrukt wahrscheinlich immer etwas mehr enthalten, dass die Sache präziser macht. So wie ein anständiger Kaufmann ja auch mit einem Stufenkonzept verschiedener Gewichte und Verpackungsgrößen aufwartet, und Kunden beim Eintüten ihrer Wünsche behilflich ist.

Habermas kommt bis zuletzt immer wieder auf den Begriff der Rationalität zurück als Klassifikationskonstrukt. Mit seiner Hilfe tütet er das moderne Denken ein (in Abgrenzung zum wilden Denken) in ein solches mit universalem Anspruch im Sinne eines universalen Rationalitätspotentials, das durch Ausdifferenzierung in verschiedene Bereiche von Rationalität immer mehr freigelegt wird. Und irgendwann geht’s wahrscheinlich nicht mehr rationaler.

Doch lässt der Grad von Ausdifferenziertheit sich empirisch einlösbar messen? Und wenn, an welchem Konkretikon? Darüber schweigt Habermas. Marx hat darüber nachvollziehbar geforscht. Nur ist der nicht mehr so richtig “in”. Genial schon, aber veraltet. Also definiert Habermas lieber weltbewegend vor sich hin: In der definitiven Ausdifferenzierung in verschiedene Rationalitätsbereiche ist er dem Grunde nach am Ende der Schleimspur angelangt. Und da wird’s noch mal so richtig großspurig: Die Ausdifferenzierung führe nämlich hin zu einer Erweiterung des Ontologie-Begriffs, den Habermas gemäß der antiken Tradition zu sehr eingeengt sieht auf:

Die beiden letzten Bezüge seien seit der Antike in aller bisherigen Philosophie bis heute nicht ausgebildet. Er, Habermas, wolle mit seinem Werk vor allem ein Beitrag leisten, diesem Mangel abzuhelfen.

Die Ausdifferenzierung in die eben genannten drei Bezüge von Weltrationalisierung, die mit drei entsprechenden Wahrheitsbegriffen schwanger gingen, seien im wilden Denken nicht gegeben. Trotzdem seien die Wilden zum operationalen Denken und Handeln in der Lage. Wie gnädig. Doch herrsche bei ihnen eine merkwürdige Konfusion zwischen Natur und Kultur. Nicht mehr so gnädig. Während im modernen Denken diesbezüglich, da ist Habermas ganz Kind der Frankfurter Schule, eine weitgehende Entmischung zwischen Natur und Kultur stattgefunden habe. Natur trete den Menschen zunehmend, seit der homerischen Kritik am Mythos, als tote Sache gegenüber, die es vollständig zu beherrschen gelte, wobei, Habermas zufolge (da ist er Kritiker des modernen Denkens), das Adjektiv "vollständig" durchaus wieder etwas anzeige wie eine Reaktivierung des Denkens in mythologisierenden Kategorien. Vielleicht eine Art Reaktivierung wilden Denkens, das man längst überwunden glaubt? Habermas benutzt in diesem Zusammenhang die schön klingelnden Begriffe von einer "Desozialisierung von Natur" und "Denaturalisierung von Gesellschaft". Er sieht aber insgesamt das moderne Denken am Ende einer solchen Tendenz angelangt. Richtig denken müsse man. Das wird einem keiner abnehmen können. Das kann aber nicht so schwer sein, zumal der moderne Zeitgeist doch beständig um uns herum wirkt. Doch vielleicht sollte man zwischendurch einfach nur aufhören, Menschen bösartig zu demütigen. Demokratisch gewählte Politiker tun das zurechenbar zusammen mit Vertretern von Wirtschaft und veröffentlichter Meinung.

Nun, Habermas wäre ja nicht Habermas, wenn er nicht Ansätze für eine gesellschaftliche Perspektive sähe, die zu Optimismus Anlass gäbe, die es, da hält er es mit Marx, historisch zu begründen gelte. So kann man auch die Aufsatzsammlung “Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus” (HAJ-RHM) als Vorbereitung seines Hauptwerks “Theorie des kommunikativen Handelns” lesen: Einen aus den Fugen geratenen historischen Materialismus, den man historisch rekonstruieren müsse auf der Basis modernen Wissens. Nur hatte schon der späte Marx mit Geschichtsphilosophie immer weniger, dafür mit ökonomischer Systemtheorie immer mehr im Sinn. Schon er ahnte, dass sich seine Theorie scholastisierte. Mit Engels fing das an. Mit Lenin, Lukacs ging es weiter. Adorno und Horkheimer gerieten dann in völlige Orientierungslosigkeit, als sie sich anfangs dem Marxismus verpflichtet fühlten. Und dann feierte man den frühen Marx der “Pariser Manuskripte” als marxistische Offenbarung. Nun, es gab ja auch immer weniger zum Feiern. Kurz: Begriffe gerieten zu toten Abstraktionen. Habermas schlägt auf tote, halb verweste Hunde ein und schüttet das Kind mit dem Bade aus, indem er Marx selbst in diese Orientierungslosigkeiten verstrickt sieht.

Habermas ist, der hegelmarxistischen Tradition verpflichtet, nicht willens oder seelisch nicht in der Lage, sich von Geschichtsphilosophie zu lösen: Seinen Optimismus glaubt er historisch in einem Stück Rationalität identifizierbar, allgegenwärtig, das es aufzuspüren, freizulegen, historisch zu begründen gelte, das erst das moderne Denken sichtbar werden lässt, gleichwohl dieses Stück Rationalität implizit schon seit den Hochkulturen am Werk, die das wilde Denken ablösten, den Gedanken als universale Kategorie herauslösten aus dem sozialen Kontext, – als Voraussetzung zu jeglicher Fähigkeit Kritik zu üben und auszuhalten (man denke an das gespannte Verhältnis zwischen Cicero und Cäsar), basierend auf der grundlegenden Fähigkeit zu differenzieren zwischen dem, was Zeichen und dem, was zu bezeichnen: Das Formale, in Sprache verpackt – bei Habermas das Formalpragmatische – als aparten Gegenstandsbereich im Sinne einer kommunikativen Entität, die hilft, in der Lage, dem Menschen beim Erkennen und Denken auf die Sprünge zu helfen.

Das riecht einmal mehr verdächtig nach einer Art Kantischen Definition von Aufklärung, wonach diese nichts anderes sei, als der Ausgang des Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit. Der Mensch ist mit Vernunft ausgestattet; er müsse halt nur angehalten werden, diese seine Vernunft zu gebrauchen. Eine grandiose Nullaussage.

Nichts gegen hermeneutische Deutelei, Begriffsdefinitionen, in die man etwas hineinbedeuten mag, allerlei Spezifikationen, etc. Nur muss da zwischendurch auch mal Schluss sein; man muss es nicht immer nur dabei belassen. Vor allem nicht so tun, als hätte man dadurch die dynamische Seite der Ökonomie freigelegt; das, was Übergänge und Grenzen markiert. Da wird einem der begrifflich fixierte Übergang vom wilden Denken zu einem solchem mit universalem Anspruch, bzw. zu einem solchem, in dem ein universaler Anspruch nicht mehr so recht haftet: dem modernen Denken, nicht viel weiterhelfen. Das geht sicherlich mit der einen oder anderen Ausdifferenzierung einher, die ein erhellendes Licht auf den Gegenstand der Betrachtung wirft (erhellende Tautologien), aber dynamische Aspekte nicht ohne weiteres mit einbezieht (Begriff des Erklärens) und schon gar nicht dadurch mit einbezieht, indem man umso nachdrücklicher betont, dass man diesbezüglich auf dem richtigen Weg. Indem man z.B. zeigt, dass man da eine Entwicklung aufgespürt habe, die es nunmehr sensibel zu erschließen gelte, eine Entwicklung hin zu immer mehr Rationalität, wie immer man dieses Mehr auch deuteln oder spezifizieren oder erkennbar machen möge. Marx sagte einmal: “Die Philosophen haben die Welt immer nur interpretiert. Es komme aber darauf an, sie zu verändern.” Das wollte er gewiss auch als Selbstkritik verstanden wissen.

 

Lob der Dummheit
Hamburg, 19.09.2004

Man könnte vermuten, dass der menschliche Kopf
eigentlich eine Trommel sei, die nur darum klingt,
weil sie leer ist (Immanuel Kant, 1724 – 1804)

Die erfahrungsunabhängigen, reinen Verstandesbegriffe, die sogenannten Kategorien, nach Kant der formalen Logik entlehnt, verdanken ihre Existenz der Wahrheitsfähigkeit menschlicher Beziehungen (was sich in Sprache und Sprechen niederschlagen mag), das heißt, der Entwicklung zurechnungsfähiger Erwartungsdispositionen, die ...
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Immanuel Kant Reloaded
Hamburg, 23.10.2004

Man kann es
drehen und wenden
wie man will.
Wieder und wieder.
Aufklärung war
ist und bleibt,
ohne Wenn und Aber,
immer und nur
mit großer Leidenschaft
ein wenig so tun als ob.

Es gibt geistige Sackgassen. Rezeptionen und Erneuerungsversuche der kantischen Moralphilosophie waren vielfach Sackgassen ab dem 19.Jahrhundert - und heute einmal mehr in der Person Otfried Höffe, ordentlicher Professor für Philosophie an der Universität Tübingen. Mit seinem Buch “Immanuel Kant” lässt sich das gut demonstrieren, aber nicht nur dort, auch in neueren Werken und vielen polit-philosophischen Aufsätzen, in denen er sich unentwegt auf die Philosophie von Kant beruft, insbesondere auf seine Moralphilosophie. Wie Kant bestimmt Höffe Moral  subjektfundiert. Sie ist für ihn keine Kategorie der Verständigung im sozialökonomischen Kontext, vielmehr etwas, was den Menschen in die Wiege gelegt.

Natürlich ist Höffe Experte auf seinem Gebiet der Philosophie, weiß durchaus gefällig in einem allgemeinverständlichen Jargon zu schreiben, insbesondere dort, wo er die Philosophie Kants verknüpft mit Stellungnahmen zu aktuellen politischen Themen, zum Beispiel mit einer positiven Stellungnahme zur Agenda-2010, bzw. den Hartz-Gesetzen, ohne auch nur im geringsten ökonomische Zusammenhänge einzubeziehen. Hartz-IV ist für ihn moralisch begründbar. Ohne Arbeit, egal welche, die Hauptsache zumutbar, sei der Mensch kein Mensch. Man müsse Menschen, insbesondere Langzeitarbeitslose, zu ihrem Glück zwingen. Da ist er allgemein anerkannter Diskursteilnehmer in einschlägigen bildungsbürgerlichen Gazetten wie FAZ, SZ oder Die Zeit, wenn auch nicht so agil mediengeil wie der Hysteriker und Quatschkopf Arnulf Baring, der überall im Fernsehen seine apokalyptischen Visionen im Hinblick auf die Unbezahlbarkeit des Sozialstaats zum Ausdruck bringt, je hysterischer, desto besser: die Menschen, so Baring gebetsmühlenhaft, müssten von führungsfähigen Politikern, die es leider Gottes nicht mehr gäbe, über den Sinn großer Opfer aufgeklärt werden. Dazu brauche es mehr nationales Selbstwertgefühl. Nur so könnten die Menschen wieder mehr Zutrauen zu sich selbst finden; anders seien gravierende Opfer nicht vermittelbar. Wehe, jemand widerspricht oder, schlimmer, macht sich gar lustig. Dann wird Baring sehr ungemütlich, denn schließlich geht es um das Schicksal Deutschlands. Wer das vergisst, kann nur ein verantwortungsloser Flegel sein. Ist doch logisch.

Höffe hört sich - Weltbürger, der er sein will - eher seriös an, weniger aufgeregt, weniger nationalpatriotisch. Endlich mal ein Philosoph, der zu politischen Fragen Stellung bezieht. Als Verantwortungsethiker brennen ihm die soziale Probleme der ganzen Welt unter den Nägeln. Er will helfen und ist ständig bemüht, das Soziale der Welt in Begriffe von Ethik und Moral zu übersetzen, in der Gewissheit, nur so die geistigen Bedingungen für eine gerechtere Welt zu befördern. Ja, der Mensch müsse die Moral als innere Stimme der praktischen Vernunft in sich verspüren, die auf der Autonomie des Willens beruht als Bedingung von Freiheit, davon doch die Verwirklichung der menschlichen Grundrechte abhängen würde, insbesondere das höchste menschliche Gut: das Recht auf Würde und, davon abgeleitet, Unversehrtheit des Menschen an Leib und Leben.

Es wäre unredlich, Höffe einfach in eine Ecke der Inkompetenz zu stellen. Schließlich hat jeder irgendwo seine Schwächen, die er verbergen möchte. Nur liegen sie bei ihm offen zutage. Sein Fehler liegt unverzeihlich in einem Prinzip - ein Wort, das er gern selbst benutzt - nämlich darin, an philosophische Wahrheiten um so fester zu glauben, je folgenloser sie für menschliche Praxis sind. Das kann man schon in der “Zeit” (Nr.42, vom 07.Okt.04) nachlesen. Dort rezensiert Hauke Brunkhorst Höffes allerneuestes Ethikwerk “Wirtschaftsbürger - Staatsbürger - Weltbürger. Politische Ethik im Zeitalter der Globalisierung”, zugegeben nicht sehr geistreich. Allein der letzte Satz seiner Besprechung ist erwähnenswert, weil er dort den Nagel auf den Kopf trifft:

“Der Hinweis auf die Abweichungen der Blaupause bundesstaatlicher Institutionen und die Mahnung zu mehr Weltbürgertugend sind kein Ersatz für Gesellschaftstheorie und immanente Kritik. Höffe hat fast auf jede Frage eine Antwort. Aber er denkt abstrakt. Er glaubt im Ernst, das Elend der Welt lasse sich durch mehr Philosophie, langfristiges Denken und guten Willen allein beheben und demonstriert doch nur das neueste Elend einer Philosophie, die das Nachdenken über Staat, Politik und Gesellschaft auf ethisches Räsonieren beschränkt.”

Mal ganz im Vertrauen: abstrakt zu denken, ist nicht schlimm. Abstraktionen sind vielmehr ganz und gar unvermeidlich. Schlimm ist nur, dass das Denken nicht gerade Höffes Stärke ist. Zu denken setzt ein wirkliches Objekt voraus, etwas, worüber man denkt, in unserem Falle: menschlich-gesellschaftliche Praxis und ein Verhältnis zu ihr. Menschliche Praxis kommt bei Höffe aber nicht vor. Diese existiert leider nur als Vorstellung, als imaginativ-moralisches Prinzip, das er, so sein gesellschaftstheoretischer Ansatz, wirklichkeitsmächtig wähnt. Nun wäre es natürlich interessant zu wissen, was Brunkhorst alternativ zu Höffe unter Gesellschaftstheorie versteht oder wie anders als durch guten Willen, mehr Geist oder mehr Philosophie das Elend der Welt bekämpft werden könnte. Dazu fällt ihm auf einer langen, ganzen Seite nicht viel ein. Nun, wenn man sich in der “Zeit” über Moralphilosophen wie Höffe schon lustig machen darf, dann dauert es nicht mehr lange und Philosophen werden zu Kandidaten für das Satirespiel, vorausgesetzt sie besitzen nicht das selbstparodistische Talent eines Marcel Reich-Ranicki, der lieber immer alles selbst macht. Doch hat Kant, geboren 1724, es verdient, dass man ihn in den Spott hineinzieht? Er kann sich heute nicht mehr wehren.

Höffe glaubt an den Kategorischen Imperativ - daran, dass die menschliche Existenz auf ein moralisches Prinzip reduzierbar ist, von dem er in letzter Instanz alles abhängig macht und merkt nicht, dass er Politik dadurch von jeder Verantwortungsethik entlastet. Er erteilt allen Politikern von vornherein die Absolution, insbesondere denen, die vornehmlich auf Absicherung von Privilegien schielen. Irgendwelche Bösewichter gibt es auf der Welt zum Glück ja immer, denen man die Schuld für alles Elend in die Schuhe schieben kann.

Etwas anderes ist es und durchaus legitim, die menschliche Existenz als eine solche von Moral zu sehen. Diesen feinen Unterschied entwickelt Höffe, ein Mensch von Prinzip, nicht. Er lässt sich dazu hinreißen und ist überzeugt davon, Beweisführung auf sozialwissenschaftlichem Gebiet auf ein moralisches Prinzip gründen zu müssen - ganz analog zur aristotelischen Auffassung, dass es grundlegende Sätze gäbe wie den “Satz vom Widerspruch” (zwei einander widersprechende Urteile können nicht zugleich wahr sein), die für sich selbst stünden und keiner Beweisführung bedürften, bzw. selbst nicht beweisbar seien, einfach nur als sozusagen souveränes Prinzip existierten, aus dem menschlichen Erkennen heraus problemlos akzeptierbar, die der aristotelischen Logik gemäß gleichwohl die Grundlage jeglicher Beweisführung bildeten, ohne dass sich beweisführende Philosophen sich dessen immer bewusst seien. Der Satz vom Widerspruch setzt kein Konkretikon voraus, an dem man ihn messen könne. Das bedeutet: er gelte notwendig und unbedingt als Bedingung für weitere Urteile in Bezug auf Gegenstände.

Moral ist aber ohne lebensweltlichen Bezug gegenstandslos, muss sich am beobachtbaren Handeln messen lassen; sie setzt ein Konkretikon voraus, an dem sie sich messen lassen muss. Das lehren uns schon Diskursethiker wie Apel und Habermas, aber auch der philosophische Pragmatismus aus den USA, deren Vertreter sich gern auf ihren George Herbert Mead berufen. Ohne empirisch einlösbaren Maßstab könnten Menschen sich moralischem Druck entziehen und Moral bliebe folgenlos, wenn auch eine uneingeschränkte Einigkeit darüber, wie einen solchen formulieren, nicht existiert - eine unübersehbare Schwäche, wohl wahr. Aber weniger unerträglich als ein Moralapostel, der den Maßstab allein in sich dünkt, dem Moral ein subjektfundiertes Konstrukt ist, nicht viel wert, sofern ihr Ursprung im Subjekt nicht lokalisierbar, bzw. sofern Moral nicht subjektfundiert objektivierbar.

Doch auch der Moralapostel gerät in Schwierigkeiten, wo er als Sprecher einem Hörer die absolut verbindliche Maxime des Kategorischen Imperativs begreiflich machen möchte. Moral, so hört man dann aus berufenem Munde, ist ein Produkt der reinen Vernunft, auf Freiheit und Autonomie des Willens gegründet. Man stelle sie sich als innere, monologische Stimme vor, mit der der Mensch zu sich selbst spricht, durch die er sich selbst ein “Sollen” auferlegt, das sich, wenn wahrhaft sittlich und schlechthin gut, an einer höchsten Maxime, einem schlechthin Guten, orientieren müsse: dem Kategorischen Imperativ. Der, so Höffe und da strapaziert er unaufhörlich den armen Kant, sei ein Kind des “Faktums der Vernunft”. Ein schwergewichtiges Wort, das Wort “Faktum”; wer wagte es, dem zu widersprechen? Höffe erläutert das Faktum aus Kants ”Kritik der praktischen Vernunft” wie folgt:

“Als Faktum der Vernunft bezeichnet Kant nicht das Gesetz der Moralität, das Sittengesetz, selbst, sondern das Bewußtsein des Sittengesetzes. Kant spricht von einem Faktum, weil er das Bewußtsein des Sittengesetzes für eine Tatsache, für etwas Wirkliches, nicht für etwas Fiktives, bloß Angenommenes hält. Es handelt sich, sagt Kant, um die unbestreitbare, apodiktische Tatsache, daß es ein moralisches Bewußtsein, das Bewußtsein einer unbedingten Verpflichtung, gibt. Durch das Bewußtsein unbedingter Verbindlichkeiten kündigt sich die Vernunft ‘als ursprünglich gesetzgebend’ an.”

Also: die innere Stimme ist sogar eine ursprünglich gesetzgebende Instanz. Dass Gesetze und Staat historisch entstanden sind, haben wir sozusagen dieser inneren Stimme zu verdanken. Vielleicht der inneren Stimme Moses, die auf dem Berg Sinai mit Gott spricht? In Moses spricht der liebe Gott und gewährte den Menschen derart Gesetz und Staat, sozusagen als äußere Befestigungen der inneren Stimme. Und wehe dem, der Geschenke nicht zu schätzen weiß.

Na, und dann muss noch ein bisschen Butter bei die Fische: ein Praxisbeispiel aus dem menschlichen Erleben soll die Sache für den gemeinen Verstand begreiflich machen. Dabei geht es um einen moralischen Sachverhalt, der - klar wie Kloßbrühe - von allen Menschen übereinstimmend beurteilt wird, wobei der moralische Sachverhalt aus der menschlichen Praxis seine notwendige und apodiktische Beweiskraft nur dadurch erhält, weil alle  Menschen zu einem übereinstimmenden Urteil gelangen, ohne - und das macht die Sache erst wirklich objektiv, sozusagen maßstabsgerecht, weil erfahrungsunabhängig - sich zu verständigen; das heißt Übereinstimmung deshalb, weil eine innere Stimme, was immer es sei, ausnahmslos zu allen Menschen spricht. Großer Gott. Und da sage noch einer, heutzutage hätte es sich alles ausgewundert. Wunder gäbe es  nur in der Bibel. Doch lauschen wir ein wenig, wie Höffe das Praxisbeispiel von Kant rezipiert:

“Kant fragt, ob jemand, der unter Androhung der unverzögerten Todesstrafe aufgefordert wird, ein falsches Zeugnis wider einen ehrlichen Mann abzulegen, es doch für möglich halte, trotz einer auch noch so großen Liebe zum Leben diese Neigung zu überwinden und das falsche Zeugnis zu verweigern. Die Antwort auf diese Frage lautet zweifelsohne: ja. Auch wenn ein falsches Zeugnis wider einen ehrlichen Mann (wieso nicht ehrlichen Menschen? Anmerkung F.W.) unter besonderen Umständen verständlich sein mag (...), so beurteilen wir trotzdem das falsche Zeugnis als ein moralisches Unrecht (...) Da wir tatsächlich das bewußt falsche Zeugnis verurteilen, sieht Kant im Bereich des Praktischen die von allem Empirischen, hier: von aller Neigung unabhängige, die reine Vernunft als real erwiesen. Die reine praktische Vernunft, die Moralität, erscheint nicht länger als ein lebensfremdes Sollen, sondern als eine Wirklichkeit, die wir immer schon anerkennen” (vergl. HOO-IKA, S.202ff). Wie gesagt, ohne Verständigung, ganz automatisch. Verständigung würde alles kaputt machen, weil Menschen mit ihren Vorlieben und Schrullen viel zu schnell in Streit geraten würden und dadurch alles versubjektivieren und relativieren würden.

Die Idee einer Erfahrungsunabhängigkeit, bzw. die Notwendigkeit lebensweltlicher Abgewandtheit von Moral gerät in Gefahr, wo sie als inneres Gesetzgebungsverfahren verstehbar gemacht werden soll; dann kommen auch Meisterdenker wie Höffe nicht umhin, den Moralbegriff mit Empirie zu verunreinigen, mit etwas, das der menschlichen Erfahrungswelt entnommen. Schlimm ist nicht, dass Kant so was vor über 200 Jahren gefordert hat, sondern dass Leute wie Höffe an diesen Scheiß immer noch glauben. Im Augenblick, wo es praktisch wird, schon wenn Erklärungsbedarf entsteht, geraten Kantepigonen ins Schwimmen. In ihrem Bestreben überzeugend zu sein, geraten sie unvermeidlich in Versuchung, den Kategorischen Imperativ mit Praxis, mit Empirie zu vermengen, was letztlich zu so sinnlosen Konstruktionen führt wie zum Beispiel, dass Recht als äußere Befestigung innerer Moral apriorisch bestimmbar sein müsse in dem Sinne, dass es dafür wenigstens metaphysische Anfangsgründe gäbe, was auf eine dem Grunde nach naturrechtliche Konstruktion hinausläuft, von der sich Kant aus verständlichen Gründen nicht gelöst hat: Der Mensch ward in dem Augenblick zum Menschen, wo er aus einem moralischen Imperativ heraus sich selbst zum ersten mal ein Gesetz gegeben, und er sich damit über die Natur, ja über seine eigene Natur: seine natürlichen Neigungen, gestellt habe. Ein Handeln entgegen naturwüchsigen Kausalitäten, entgegen natürlichen Naturgesetzen, die den Menschen an das Tierreich binden würden. Der Mensch steht aber kraft seines autonomen Willens, auf dem seine Freiheit gründet, außerhalb und über der Natur nur dann konsequent und wirklich, wenn er seinen eigenen Gesetzen auch Gehorsam leistet - gegen alle natürlichen Neigungen. Der Mensch wird also zum Mensch in seiner Eigenschaft als moralische Instanz nur dann, wenn er seinen Neigungen zuwider handelt. Hier wollte der Klassiker und Kantepigone Friedrich Schiller nicht mehr folgen, obwohl es hier um ein unhintergehbares Prinzip geht, mit dem die kantische Moralphilosophie steht und fällt. Schiller sagt:

“Gern dien ich den Freunden, doch tue ich es leider mit Neigung
Und so wurmt es mir oft, dass ich nicht tugendhaft bin”

Dieser Zweizeiler könnte so machen einen gehörigen Schrecken einjagen. Schließlich ist Schiller nicht irgendwer. Also, ein bisschen weniger Tugend, angereichert mit ein wenig Neigung, muss auch mal sein dürfen, obwohl Standhaftigkeit im Interesse von Recht und Ordnung vielleicht doch dringend geboten wäre. Höffe postuliert mit Kant aber lieber einen Kompromiss, auch wenn dieser, mit Verlaub, im Hinblick auf moralische Orientierung dem Skeptizismus und Relativismus wiederum eine kleines Hintertürchen öffnet: es gäbe halt Abstufungen im Grad von Sittlichkeit und Tugend, - doch nicht etwa je nach Grad von gefühlter Neigung? Dieser Verdacht drängt sich förmlich auf. Kant sagt in seiner “Kritik der Praktischen Vernunft”, dass eine Neigung zum Pflichtgemäßen die Wirksamkeit der moralischen Maximen sehr erleichtern würde (HOO-IKA, Seite 201). Wer aber entscheidet, wieviel Neigung sein darf? Nun, da muss halt ein jeder ganz selbständig seine innere Stimme befragen.

Es geht aber, gerade im Sinne von Kant, nicht allein um mehr oder weniger Tugend, sondern um wahre Sittlichkeit, um Tugend schlechthin, darauf sich menschliches Pflichtgefühl gründe, bzw. die Fähigkeit zu unbedingtem Gehorsam gegenüber einem selbstgesetzten Gesetz; es geht um nichts weniger als um den Staat und seine Rechtsordnung, die einer stabilen Fundierung durch unbedingte Geltung einer höchsten sittlichen Tugend bedürfe - gewährleistet durch die innere Stimme als moralische Instanz und metaphysischen Anfangsgrund von Recht und Staat, dadurch der Mensch zum Menschen ward. Und dass, natürlich, diese innere Stimme noch immerzu wirke als regulatives, rechts- und staatstragendes und insofern wirklichkeitsmächtiges Prinzip. Recht und Staat gehören zusammen, denn das Recht brauche den Staat als schützende Instanz im Interesse von Rechtssicherheit. Bei Höffe hört sich das, jetzt wieder ganz streng, folgendermaßen an:

“Die normative Idee eines uneingeschränkt Guten ist nicht nur für die personale Praxis, sondern auch für die institutionelle Seite menschlicher Praxis, insbesondere für Recht und Staat gültig. Weil wir bei der Praxis diese zwei Gesichtspunkte unterscheiden können, gibt es auch zwei Grundformen der Sittlichkeit, auf der einen Seite die Moralität als Sittlichkeit einer Person, auf der anderen Seite den Vernunftbegriff von Recht, die politische Gerechtigkeit als die Sittlichkeit im Zusammenleben der Personen.” (HOO-IKA, S.176). ...im Staat, hätte er noch ergänzen können.

Wie auch Kant setzt Höffe die Praxis menschlicher Verständigung problemlos voraus. Wie auch anders?  Lässt sich über Fakten doch schwerlich streiten, seien sie auch abstrakt, wiewohl als Prinzip in jedem Menschen in gleicher Weise wahr-nehmbar. So ist Moralität zwar als Abstraktum invariant im menschlichen Innenleben angesiedelt, aber eben auch konkret in jedem Menschen in gleicher Weise existent und somit empirisch beweisbar. Abstrakt und konkret (empirisch) in einem. Folgerichtig denunziert Höffe die Diskursethiken von Habermas und Apel, weil sie die Moralität ausdrücklich am menschlichen Handeln, außersubjektiv am empirisch beobachtbaren Verhalten festmachen, unzulässig mit Erfahrung und Neigung vermengen und damit relativieren. Moralität könne aber “nur an ihrem Bestimmungsgrund, dem Wollen, festgestellt werden” (ebenda, S.179), dem das strengste objektive Kriterium, der Kategorische Imperativ, zur Seite stehe. Das heißt, “die strenge Objektivität ist selbst das Kriterium. Mithin lässt sich bei Kant der Vorwurf einer maßstabslosen Innerlichkeit des rein persönlichen Gewissens nicht halten”(ebenda, S.181).

So was nenne ich “Moral verabsolutieren”: Moral und Interaktives subjekt-objekt-dualistisch voneinander isolieren. Marx ging so was schon vor 160 Jahren auf die Nerven, wie er in einer seiner Feuerbachthesen anmerkte: Das menschliche Wesen sei kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum, in seiner Wirklichkeit sei es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse. Höffe beschreibt moralische Kategorien nicht als etwas, worauf sich Menschen im sozialen Kontext verständigen müssen, sondern als etwas, das subjektfundiert aus der menschlichen Existenz schlechterdings folgt und dann sozusagen nur noch verlautbart werden muss. Moral ist dann nicht etwas, was im sozialen Kontext gelernt werden kann, dadurch alle Maßstäbe verschwimmen, an denen moralisches Handeln gemessen werden müsste, will sie nicht folgenlos sein. Das, was Höffe Diskursethiken vorwirft, begünstigt er selbst: dem Relativismus Tür und Tor öffnen durch Verabsolutierung menschlicher Existenz, dadurch menschliche Beziehungen unproblematisch der Bearbeitung unzugänglich werden. Wo man einer inneren Stimme gehorchen muss, kann es Probleme dem Prinzip nach nicht mehr geben, sind interaktive Probleme der Bearbeitung nicht zugänglich, - dann gibt es nur noch ein Entweder-Oder, “böse” oder “gut”, Gehorsam oder Ungehorsam dieser inneren Stimme gegenüber aus einem freien und autonomen Willen heraus, über diesen sich der Mensch vom Tier unterscheiden lässt: durch die Fähigkeit zur Moral auf der Grundlage eines autonomen Willens, die dem Handeln ermöglicht, gottebenbildlich Natur und Kausalität, überhaupt soziales Eingebundensein hinter sich zu lassen, das heißt, den Menschen schlechthin über der Natur, dem Tier in ihm, stehen zu lassen. Natur und Tier sind Gefangene von Kausalität und Notwendigkeit, dem Gegenteil von Freiheit, der Mensch nicht, er ist frei. Basta. Ja, wie anders sollte man den Menschen sonst vom Tier unterscheiden? Natürlich will Höffe sich nicht so dumm anhören. Er versteht sich zu kleiden. Unverkürzt und ohne Punkt und Komma kann man ihn wie folgt zusammenfassen:

Die reine Vernunft als solche ist praktisch, eine von Moral und sittlicher Tugend, die sich in ihrer höchsten Vollkommenheit im Kategorischen Imperativ verwirklicht. Der Mensch ist definierbar durch Vernunft; diese markiert eine Grenze: den Bereich möglicher Erfahrung. Jenseits dieser Grenze beginnt der Mensch in seinem Streben nach unbedingtem Erkennen - und zwar nicht nur theoretisch, sondern auch und gerade in seiner Eigenschaft als moralisches Wesen. Der Mensch will beständig wissen, woher er kommt und wohin er geht (Ursprung und Zweck). Als moralische Existenz steht er von vornherein jenseits dieser Grenze, durch seinen autonomen und freien Willen. Dieser ist nur frei, sofern er sich nicht an das hält, was die Natur, seine Instinkte und Neigungen ihm beständig einflüstern. Er ist mehr als nur Tier und Natur. Jenseits des Bereichs möglicher Erfahrung konstituiert der Mensch sich als ein freies, auf dieser Grundlage als moralisches Wesen, dort, wo er den Bereich naturwüchsiger Notwendigkeit verlasse. Durch seinen autonomen Willen und weil er frei ist, ist er in der Lage, jenseits von Natur und natürlichen Neigungen, sich selbst ein Gesetz zu geben - gegen seine Natur. Durch Willensautonomie, allen Naturnotwendigkeiten zum Trotze. Wahre Tugend zeigt sich nur dort, wo der Mensch gegen seine Natur, gegen ihre Notwendigkeiten handelt. Das heißt notwendig und nicht zuletzt im Gehorsam gegenüber seinem eigenen Gesetz, das aus Autonomie geboren.

Das alles schließt ein: es darf keine Verbindung geben zwischen dem, was man Natur, natürliches Wissen, den Bereich möglicher Erfahrung einerseits nennen kann, und der praktischen reinen Vernunft, der Welt moralischen Handelns, andererseits. Gleichwohl ist das menschliche Streben, die Vernunft, gehalten, diese Verbindung (unvernünftig) herzustellen. Gegen diese Unvernunft muss sich die Vernunft wappnen (daher Kritik der Vernunft), indem sie den menschlichen Verstand beständig daran erinnert, dass derartige Verbindungsbemühungen, verborgen im Urteilsvermögen, den Bereich möglicher Erfahrungen nicht erweitern, aber die regulative Bedingung dafür abgeben.

Damit, so Höffe vorlaut, habe Kant den Subjekt-Objekt-Dualismus geknackt. Nur übersieht er als sein unkritischer Epigone, dass dieses Problem, vielfach als Leib-Seele-Problem oder als Gegensatz von Körper und Geist formuliert, soziale Spannungen nur anzeigt, und dass es in der Praxis nur als fiktive Imagination existiert - als bloße Vorstellung. Menschen werden Probleme aufgedrängt, eingeredet, die sie ansonsten gar nicht haben würden. So wie jeder Inhaftierte nach langweiligen Kreuzworträtseln gieren würde, aus Verzweiflung, wenn man ihn anderes nicht tun ließe. Nicht dass der Dualismus Lug und Trug wäre, nein, die Menschen verspüren ihn, lechzen nach ihm, brauchen ihn - aus Verzweiflung.

 

Einübung in Selbstgewissheiten

Der Subjekt-Objekt-Dualismus zeigt soziale Antagonismen an und steht und stand zu allen Zeiten für das Bedürfnis der Herrschenden einer Gesellschaft, ihre Unterprivilegierten ins Unrecht zu setzen - mit dem Ziel, sie derart leichter zu bloßen Objekten, einer Verfügungsmasse von Herrschaft, zu degradieren, nicht zuletzt wenn diese immer wieder in ihrem Bemühen an gesellschaftlicher Teilhabe blutig scheitern. Bitsch, batsch. Selbst schuld. Warum bist du auch so vorlaut. Ja, noch in der größten Brutalität des Staates zur Wahrung herrschender Privilegien sehen die Beherrschten, mit ein wenig Phantasie, entwicklungslogische Verheißungen ihres eigenen Eingebundenseins in den gesellschaftlichen Zusammenhang. Das kommt in einem der berühmtesten wie auch fragwürdigsten Sätze Hegels zum Ausdruck, der einmal sagte: “Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.” Seit es den Satz gibt, steht er in dem Verdacht, allen Herrschenden der Welt in vorauseilendem Gehorsam einen Persilschein auszustellen für alle nur mögliche Brutalität und ist gleichzeitig die Kehrseite der Sucht nach Selbstgewissheiten, für das Bedürfnis nach existentieller Glücksverheißung. Der Satz steht für die Unfähigkeit zu zweifeln; er ist ein Kind der Verzweiflung. Verzweifelte können sich den Zweifel nicht leisten; sie brauchen absolute Wahrheiten, in denen sie sich ihrer selbst gewiss sind. Ein fragwürdiger Vorgang von Selbstheilung. Dabei geht so manchem von ihnen der klare Blick verloren, gerade den Wohlmeinendsten, die sich auf der Seite der Beherrschten wähnen.

Nehmen wir ein Beispiel aus der Politik. Im Interesse von Karriere und Chancen setzen die meisten Politiker - ich kenne eigentlich nur solche - ausnahmslos auf das Bedürfnis nach Selbstgewissheiten beim verblödeten Wahlvolk, auch Oskar Lafontaine. Das Schlimme, diese Politiker glauben selbst an den Scheiß, den sie dem Wahlvolk erzählen, auch Lafontaine. Der diskutierte kürzlich in einer N24-Diskussionssendung unter der Leitung von Michel Friedman ganz und gar populistisch über Folter, zusammen mit einer Vertreterin von Amnesty International. Und ließ dabei tatsächlich den klaren Blick auf die menschliche Praxis vermissen und das als einer, der für seinen klaren Blick und seinen logischen Verstand berühmt ist. Friedman wollte wissen, ob man Verbrecher, zum Beispiel Kindesentführer, in bestimmten Situationen nicht auch “ein wenig foltern” können sollte, wenn dadurch die Chance bestehe, unschuldiges Leben zu retten. Lafontaine sagte ja, Amnesty International nein. Klar, auf welcher Seite der Zweifel sein Unwesen trieb: natürlich bei der Amnesty-Vertreterin; sie spielte ihre Rolle als Gutmensch, war aber dem Thema und der messerscharfen Logik von Oskar nicht gewachsen. Er, als Befürworter der Folter unter bestimmten Bedingungen, trieb sie denn auch schnell in die Defensive, aus der sie sich dann nicht mehr befreien konnte.

Oskar hat ganz offensichtlich noch nie gehört, dass man menschlicher Praxis allein mit Logik nicht beikommt. Verstandeslogik sei notwendig, aber mitnichten zureichend für praktisch-menschliche Gewissheiten, darüber uns schon Kant zu belehren wusste in seinem Versuch, seinen Lesern den Unterschied zwischen analytischen und synthetischen Urteilen beizupulen. Letztere ließen sich allein mit Logik nicht auf “wahr” oder “nicht wahr” reduzieren, denn sie stünden für “Beziehungen des Mannigfaltigen”, dessen Vereinheitlichung mit Hilfe der Urteilskraft Wahrheit nur suggerieren würde (unbenommen der Tatsache, dass Kant überzeugt war, dass mit dem Nachweis der Möglichkeit synthetischer Urteile apriori seine Vernunftkritik steht und fällt). Das macht das Bemühen um Verständigung als kollektiven Vorgang notwendig - ethisch und moralisch geboten, könnte man heute noch im Sinne einer zu modifizierenden Diskursethik hinzufügen. Damit gerinnt der Zweifel zur Funktion menschlichen Erkennens und führt keineswegs zu einem moralischen Relativismus und Skeptizismus. Das belieben moralinsaure Schnelldenker wie Höffe gern zu behaupten. Kurz: da, wo sich Menschen begegnen, gut oder böse, kriminell oder rechtschaffen, oder alles zusammen, bringen absolute Wahrheiten nicht weiter. Sie mystifizieren menschliche Existenz, machen sie unbegreiflich, zu einer Sache des einsamen Subjekts, welches als solches der Beurteilung zugänglich als “gut” oder als “böse” - außerhalb jedes sozialen Kontextes. Will eine Ethik nicht folgenlos bleiben, so interessiert sie sich für die Analyse gesellschaftlicher Zusammenhänge und nicht bloß für digitale Klassifikationskonstrukte mit angeschlossener Verlautbarungsmoral: ich gut - du böse. Na, und böse Menschen müssen im Zweifel und, selbstverständlich, schweren Herzens gefoltert werden, unter genau zu kontrollierenden Ausnahmebedingungen, letztendlich weil die Welt so ist, wie sie nun mal ist. Und wer macht die Welt so böse, wie sie ist? Die Bösen, ist doch klar. Hier, an dieser Stelle ist der Dualismus auf den Punkt einer fragwürdigen Praxis gebracht: auf eine Praxis der Segregation, die Menschen isoliert und nicht zusammenführt, abgesichert durch Logik und darauf gründender Selbstgewissheit. Bush: wer nicht für uns ist, ist gegen uns - eine Ungeheuerlichkeit.

Lafontaine applizierte in der Diskussion, wie damals die griechische Philosophie mit ihrem Logos, Logik auf menschliche Praxis durch einen Taschenspielertrick, den auch Kant nicht durchschaute, weil auch er, zumindest ein wenig, Kind seiner Zeit war und vom schlechthin Bösen und schlechthin Guten als Prinzip im Menschen fest überzeugt war. Das mag noch hingehen in einer Zeit, in der soziale und ökonomische Strukturen allgemein als nicht problematisch behandelt wurden. Die heutige Zeit dagegen stellt die Notwendigkeit einer Bewirtschaftung ökonomischer und sozialer Strukturen nicht mehr in Frage. Das setzt die Notwendigkeit von Verständigung voraus, denn die Organisation von Vorgängen der Bewirtschaft greift notwendig in Eigentumsverhältnisse ein und verändert dadurch notwendig soziale Strukturen, greift existentiell ein in menschliche Lebensverhältnisse. Schon gemerkt? Keiner verdient das, was er bekommt und bekommt das, was er verdient. So kann Gesellschaft nicht mehr funktionieren, ihr Ewiggestrigen. Wie da noch Autonomie, Moral an und für sich und, darauf gegründet, Verständigung subjektfundiert begründen? - Wie Verständigung (dass Menschen sich unterhalten müssen, ist Gott sei Dank unstrittig) im Sinne von “Gewähren moralischer Wahrheiten”, ohne Bezug zur menschlichen Praxis - sozusagen großmütig von oben herab - behaupten wollen? So was ist nichts als öde Verlautbarungsmoral, die sich als Philosophie des “Im Nachhinein” unentwegt auf das beruft, was ist und natürlich entsetzt ist über eine immer unmoralischere Welt. Wohl wahr sie Entsetzen mitnichten nur heuchelt, auch wenn man sie notwendig so wahr nimmt, vielmehr ihre Vertreter Angst wirklich fühlen, aber nur, wie man das von einem Kinobesucher kennt, wenn dieser unvorbereitet in den Film “Kettensägenmassaker” gerät. Überhaupt, wie noch die moralisch-praktische Relevanz eines Gut-Böse-Antagonismus begründen? Aus heutiger Perspektive ist die ganze kantische Moralphilosophie obsolet geworden. Denn diese “gewährt” durchweg. Für eine moderne Ethik kann sie keine Rolle mehr spielen. Wer, wie unsere Ewiggestrigen, immer noch auf sie setzt, macht Menschen zu Affen und handelt hochgradig verantwortungslos. Moral kann nur gelernt und nicht gewährt werden.

Zurück zu Lafontaine; sein Trick: er argumentierte im Konjunktiv, das heißt, mit vorgestellter und suggestiver, nicht mit wirklicher Praxis. Denn noch haben wir es ja mit einer sogenannten Ausnahmesituationen zu tun, die die Legitimität von Folter praktisch untermauern soll. Nur lässt sich mit einer Ausnahmesituation praktische Relevanz nicht untermauern, resp. praktisch-moralische Beweiskraft erzeugen. Gesellschaftliches Handeln lässt sich praktisch-moralisch auf der Basis eines nur vorgestellten Ausnahmebeispiels nicht begründen. Das durchschaute seinerzeit auch Kant nicht, als er den Kategorischen Imperativ für den gemeinen Verstand im Konjunktiv begreiflich machte.

In der Möglichkeitsform lässt sich’s wunderbar gegen das Böse und für das Gute räsonieren; man gibt sich dabei noch als Mensch von (Mit-)Gefühl zu erkennen: Ja, man stelle sich eine Situation vor, in der die Chance bestehe, das Leben eines unschuldigen Kindes zu retten; sollte, ja müsse man den Verbrecher da nicht doch foltern dürfen - aus humanitären Gründen? Im Falle einer notwendigen Abwägung menschlicher Güter, so Oskar, sei das Leben eines unschuldigen Menschen eindeutig höher zu bewerten, als die leibliche Unversehrtheit eines Verbrechers. Ja und wer da widerspricht, so will der Satz suggerieren, mache sich geradezu zum Komplizen des Bösen. Oskar sucht die Bedeutungshoheit über bayrischen Stammtischen und nicht nur dort - und: er bekommt sie ganz offensichtlich. Und setzt sich in einen öffentlichkeitswirksamen Gegensatz zu eigenen Genossen, die indes immer dann besonders blöd aus der Wäsche glotzen, wenn sie begründen müssen, warum sie für das eine oder andere sind.

Lafontaine vergaß in seiner Argumentation zweierlei: Wie will er erstens verhindern, dass die Ausnahme nach und nach zur Regel mutiert? Und zweitens: er merkt nicht, dass die gesellschaftliche Praxis sich schon lange geändert hat in einem Augenblick, wo immer mehr Menschen sich genötigt sehen, solche Ausnahmen zu befürworten. Wir leben schon lange in einer veränderten Gesellschaft, die zum Beispiel Angriffskriege sogenannter demokratischer Staaten möglich und auch zunehmend wahrscheinlich machen, bis sich die Welt eines Tages an so was gewöhnt. In solchen Situationen glaubt man Folter denknotwendig, und nicht nur das - vielleicht sogar praktisch-moralisch geboten und nicht nur im Irak. Na, und in solch einer Gesellschaft fühlte sich gerade unser Oskarchen gar nicht mehr wohl. Eine schiefe Ebene, die sich da für menschliche Praxis anbahnen könnte, schwierig zu erkennen für Leute, die, zusammen mit Freunden, in einem schönen Garten besinnlich über menschliche Existenz philosophieren können, und zuweilen mit dumpfbackiger Logik an dieser abschüssigen Bahn mitbasteln. Auch Günter Grass hat einen schön großen Garten, in dem seine bildsamsten Werke entstanden. Und wenn man solche Meisterdenker dann über Moral, Politik und Ökonomie reden hört, kann einem beim Lesen ihrer Elaborate ganz schön schlecht werden.

In einer Hinsicht gibt es noch heute gute Gründe, ganz und gar Kantianer zu sein: so es Maximen menschlichen Handelns gibt, die unbedingt gelten und auf gar keinen Fall verletzt werden dürfen, die man, ähnlich wie den Satz vom Widerspruch, auch nicht beweisen muss und auch gar nicht kann, die gleichwohl kein moralisches System syllogistisch begründen können. Wenn immer mehr Menschen in dieser Hinsicht in ihrer Meinung schwankend und unsicher werden, dann sollten man sich einmal überlegen, in welcher Gesellschaft aus welchen Gründen wir mittlerweile leben, anstatt mit Hilfe der Möglichkeitsform noch dazu beizutragen, Menschenrechte abzubauen - durch Einübung in den Glauben an Selbstgewissheiten, wobei noch das Beste, was die Natur dem Menschen mitgegeben hat: logischer Verstand und Einbildungskraft, dem Verhängnis Knechtsdienste leistet.

 

Kommunikative Sicherheitsverwahrung
Hamburg, 11.11.2004

Eine tatsachen- und gefühlsfetischisierte Welt ist immer eine Welt, die so ist, weil sie so ist. In ihr werden moralische Sätze im Hinblick auf politische Partizipation belanglos, das heißt, zu einer Sache des einsamen Subjekts, wenn nicht überhaupt jede Moral, also auch die in den privaten Beziehungen, belanglos wird. Zumindest die politische Moral wird allein zu einer Sache öffentlich-anonymer Institutionen, - dadurch dass es diesen gelingt, sich von der Gesellschaft, aus der sie hervorgehen, zu isolieren. Unter ihrer Hand verwandeln sich ökonomische Prozesse, für die sie formal verantwortlich zeichnen, zu Vorgängen “ohne Alternative” und bedeuten dem Bürger, dass er sich auf sich selbst zurückziehen möge, dadurch die motivische Basis personaler Kontrolle erodiert. Denn ohne partizipierenden Daseingrund gerinnt  die selbstdisziplinierende Kontrolle zum Selbstzweck. Lernprozesse, die darauf zielen, sind nicht mehr vermittelbar und geraten ins Stocken.

Das lässt es vielleicht einmal mehr geraten erscheinen, dass Menschen sich auf sich selbst besinnen, die vielbeschworenen inneren Werte in schwerer Zeit, - vielleicht gar zum Glauben finden im Interesse von Freiheit, Würde und Abwehr einer Gesellschaft ohne Moral. Dabei hört sich die zunehmende - oft mit nationalen Gefühligkeiten einhergehende - Propagierung einer Rückbesinnung auf Glauben und alte moralische Werte an wie das berühmte Pfeifen im Walde, geht so was doch nur zu oft schwanger mit wachsenden gesellschaftlichen Ausnahmezuständen, in denen schließlich auch moralische Dammbrüche denknotwendig werden, sogar die Hintergehung moralischer Maximen wie Folterverbot. Menschen verlieren dabei das Gefühl, dass physische Gewalt als Quasi-Mittel der Kommunikation kommunikativer Verweigerung gleichkommt und die Basis gesellschaftlicher Beziehungen unterhöhlt. Dass der geschundene Teil eines Gewaltverhältnisses selbst das Gefühl dafür verliert, macht es nahezu aussichtslos zu erkennen, dass Gesellschaftlichkeit, in der kommunikative Verweigerung vorherrscht, sich lange vorher aufgelöst hat. Dieses gewaltinduzierte Vakuum, das die Auflösung kommunikativer Strukturen hinterlässt, führt dem Glauben jede Menge Anhänger zu und bereitet derart den Weg in die Innerlichkeit des einsamen Subjekts. Solche Wege benötigen Zeit, wohl wahr, noch dazu das glaubwürdige Vorbild, dem das Gutmenschentum aus allen Poren spritzt. Die reaktionär-martialischen Kräfte wissen das. Bush weiß, was er an Kerry hat, dieser sich nach verlorener Wahl in der Pose des großen Amerikaners gefallen darf, die ihm Wahlgewinner Bush großmütig gewährt, während die nächste Großoffensive auf Rebellenhochburgen im Irak vorbereitet wird.

Nun, bei Habermas lässt sich zumindest schon mal eine Affinität zu gläubigen Menschen feststellen. Nein, die hat er nicht schon immer gehabt. Nein, er redet der Folter, unter bestimmten, genau zu kontrollierenden Bedingungen, noch nicht das Wort. Vorerst scheint er nur so ziemlich alles zu lieben, was ihm über den Weg läuft, vorausgesetzt, er bekommt es nicht mit der Angst zu tun, wie damals sein großes Vorbild Adorno, als böse Studenten sich in seinen Vorlesungen ganz und gar nicht gut benahmen, gar böse Weiber barbusig um ihn herumtanzten. Da fühlte er sich in seinen intimen Gefühlen zutiefst verletzt. Wie auch der Tanz zu Blues, Jazz und Swing, später zu Elvis, für ihn den Untergang der abendländischen Kultur ankündigte, er dort neue Horden heranwachsen sah, die sich womöglich für gefährliche Dinge instrumentalisieren ließen. Menschen aller Hautfarben bewegten sich da wild durcheinander, unanständig, ganz ohne Moral: wie die Tiere, hätte er in seiner “Dialektik der Aufklärung” vielleicht noch hinzufügen sollen. Wer weiß denn schon, zu was alles die einmal fähig sein würden. Dass hier der emotionale Keim gelegt wurde für die Fähigkeit zu Widerstand und Protest gegen Völkermord in Vietnam, wollte er bis zu seinem Tod 1969 nicht begreifen.

Keine Angst, “The Times, They Are A-Changing”. Hans Magnus Enzensberger war als Altachtundsechziger und Ex-Kursbuchherausgeber auch wie wild gegen den Vietnamkrieg aktiv und forderte einst die “politische Alphabetisierung Deutschlands” ein. Heute scheint ihm diese weitgehend abgeschlossen. Und er findet - zusammen mit Henryk Broder und Wolf Biermann -, dass Saddam Hussein im Grunde ist wie Hitler und deshalb der Irak mit Krieg überzogen gehört, egal was UNO und Völkerrecht dazu sagen. Da sollten wir den USA dankbar sein, die mit Macht den Weg zurück zum Glauben an Gott suchen und sogar finden, der ihnen den außenpolitischen Mut schenkt gegen feige Alteuropäer. Ja, und dann sollten wir den Amerikanern dankbar sein, dass sie aus der Geschichte des Zweiten Weltkrieges gelernt haben, dass Appeasement bei Politverbrechern alles nur schlimmer mache.

Dabei ist der Appeasement-Begriff alles andere als ergiebig für die Analyse sozialökonomischer Zusammenhänge. Noch nicht einmal historisch besonders aussagekräftig, ist er ein Begriff, der sich hübsch für jeden Schwachsinn instrumentalisieren lässt, sogar für martialisch-kriegslüsterne Interessen. Zur Erinnerung: Im September 1938 war das Kind längst im Brunnen, der Krieg beschlossene Sache, nachzulesen in Hitlers ”Mein Kampf”. Mit den Nazis gab es keine Kommunikation, die den Namen Kommunikation verdient, allenfalls eine Diplomatie purer Verzweiflung. Dies in einem Rahmen, in dem eine internationale Kommunikation nicht entwickelt war für eine Welt, die zu Beginn des 20.Jahrhunderts mit Macht in die ökonomische Globalisierung drängte. Außenpolitik war überall auf nationale Wohlstandsinteressen fixiert. Ja, und Broder rundet diesen wildgewordenen Appeasement-Tinnef ab, indem er mit aggressiv-bedeutungsschwangerer Mine hinzufügt: die Deutschen sollten sich nicht immer einbilden, dass sie aufgrund ihrer Geschichte eine besondere moralische Kompetenz in Kriegsfragen besäßen. Auf gut Deutsch: Schnauze. Dazu Nicht-Achtundsechziger Volker Pispers in einer Satiresendung über Gesinnungstäter Wolf Biermann: “da kann man mal sehen, was der Alkohol so alles anrichtet.”

Nun, es gibt Menschen, die saufen, andere werden älter oder es passiert, wie bei Biermann, beides zugleich; der macht gerade einen auf Jungbrunnen und beklampft die Liebe mit Gedichten von Shakespeare. Aber auch jüngere Kunstschaffende wie Filmemacher Fatih Akin wissen sehr interessant über Liebe, Sex und Drugs zu berichten, so Akin in seinem Film “Gegen die Wand”, in dem er den Sex muslimischer Frauen genauer unter die Lupe nimmt. Mensch, wie das perlt. Muslimische Frauen haben Sex - ho, ho - und was für welchen. Ja, die sind fast wie wir, auch Menschen.

Alkoholiker ist Habermas sicherlich nicht. Er konnte zufrieden sein, wie sein Kontakt zum frommen Ratzinger öffentlichkeitswirksam lanciert wurde. Öffentlich wahrnehmbar sondert der zwar nur dummes Zeug ab, zum Beispiel, wenn er sich mal in eine Talkshow verliert, weiß sich aber immer vorbildlich zu benehmen und verbreitet daher schon mal keine Furcht. Solche kommunikativen Verbindungen werden gern als kleine Sensationen wahrgenommen - vom Bildungsspießer; dieser lässt sich vom feuilletonistischen Gewäsch gern affizieren. Oh, Habermas spricht mit erzreaktionären katholischen Würdenträgern. Und keiner weiß genaues nichts. Der Spießer will so was aber trotzdem begreifen. Wie soll man das verstehen? Habermas ist ja gar nicht blabla,... vielmehr ganz anders. Vielleicht muss man sein Schriftgut nunmehr neu deuten? Wer weiß, was ihn in Wirklichkeit so alles antreibt.

Worüber, zum Teufel, kann man mit einem Reaktionär wie Ratzinger Geheimgespräche führen? Warum solch miese Typen aufwerten? Weil man sich selber aufwerten möchte? Über Inhalte schweigt Habermas lieber schamhaft. Pardon, nicht darüber, wie schlecht die Welt ist, und was man dagegen vielleicht so ganz intim-allgemein, will mal sagen: nur einfach so in der Vorstellung, ich meine, nur so als Idee, machen könnte. Man kann doch einfach mal nur denken, ohne gleich mit allzu vielen Details rauszuplatzen. Da ist Habermas nicht wie Filmemacher Fatih Akin, der in sexuellen Dingen auch das kleine schmutzige Detail liebt. Nein, Habermas weiß, dass es Tabus in der Geschichte menschlicher Kultur immer gegeben hat und immer geben wird, ja geben muss. Und dann beweist er doch Sinn für einige, will mal sagen, ganz besondere Details dieser Welt, allerdings nur für solche, die weiterbringen und den kommunikativen Fluss nicht blockieren. In seinem Werk “Theorie des kommunikativen Handelns” hat er herausgearbeitet, dass Höflichkeiten wie “guten Tag sagen” und einen Diener dabei machen einen tieferen Sinn haben, historisch zu verstehen sind. Es sind kommunikative Fossile ehemals sakraler Handlungen, als die Menschen noch ihre Gottheiten hatten, daran geknüpfte sakrale Riten und unentwegt vor ihnen auf die Knie fielen. Na, und der höfliche Diener ist uns davon noch geblieben. Das alles kann man nachlesen beim Religionssoziologen Emile Durkheim, den Habermas in seiner “Theorie des kommunikativen Handelns” denn auch liebevoll rezipiert, ihn sprechen lässt “über die sakralen Wurzeln der Moral”.

Natürlich gibt es hier und dort was zu kritteln. Aber Durkheim leitet immerhin, zusammen mit dem Amerikaner George Herbert Mead einen Paradigmenwechsel “von der Zwecktätigkeit zum kommunikativen Handeln” ein, eine Entwicklung, in der der Mensch als Selbstzweck sichtbar wird in dem, was er tut und immer schon getan hat, nämlich sprechen und sprechend handeln und handelnd sprechen. Dass Mensch Selbstzweck ist, davon wissen uns aus Urzeiten also schon alle Heiligen zu erzählen, dass er im Kern mitnichten zweckorientiert ist, eben nicht nur auf ökonomische Optimierung ausgerichtet - möglichst wenig tun, möglichst viel fressen. Mensch und Arbeit als Selbstzweck, ohne Sinn und Verstand? Besser Laub sortieren als gar nichts tun. Hartz IV, ich hör dir trapsen. Auch wenn die Zweckorientierung natürlich immer und überall ihr Unwesen treibt, um zu erinnern, dass Böses überall am Werk.

Habermas übersetzt den geheimen Antagonismus “Sinn gegen Unsinn” sprachpragmatisch. Die Sprache zeigt uns, wer wir sind. In ihr finde man kulturanthropologische Invarianzen, will mal sagen, den reinen Menschen im ständigen Mit-, Zu- und Gegeneinander. Im Bereich des Lokutionären (Sprechhandlungen) liegt Perlokutionäres (sprechen im Hinblick auf Zwecke) in ständigem Konflikt mit dem Illokutionärem (sprechen in kommunikativer Absicht, weil man sich mag). Heraus kommen so Kleinigkeiten wie Diener machen. Die bezeugen uns, wie der Mensch einst zum Menschen ward, woher wir kommen, was wir sind und wohin gehen. Und überhaupt - hat ein guter Ton schon jemals geschadet? Alles andere fordert Aggressionen nur sinnlos heraus, so aufgeladen und beleidigt wie die Amerikaner zur Zeit sowieso schon sind. An einem Pulverfass sollte man nicht auch noch zündeln. Lieber den Wahnsinnigen an die Hand nehmen und die Hand in Gottes Namen nicht loslassen, in kommunikative Sicherheitsverwahrung nehmen. Ja, es gibt triftige Gründe, warum man jederzeit kriegsbereite Menschen in Talkshows wie rohe Eier behandeln muss.

Auch Menschen der Öffentlichkeit wie Ratzinger sind Menschen mit Gefühlen und verdienen es, dass man sich ihnen mit Bedacht nähert und nicht einfach so über sie herfällt, noch ohne sie persönlich zu kennen. Es gibt intime Dinge, die ein jeder mit sich herumschleppt, auch Kardinäle schleppen sich da ab. Natürlich kann man nicht verhindern, dass allerorten gerätselt wird, was wohl der eine oder der andere so ganz intim mit sich herumschleppt. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit lässt sich aber sagen: ein jeder trägt seine Kreuzchen, größere oder kleinere Päckchen, schamhaft mit sich herum und ist bisweilen darüber nicht wenig verzweifelt. Dann sind nicht Verletzungen wegen reaktionärer Äußerungen angesagt, sondern Mitgefühl. Auch gegenüber unserem Freund Ratzinger. Wer will denn wissen, was mit ihm los ist? Vielleicht verzweifelt der manchmal an Gott, weil der, obwohl allmächtig, in der Welt so viel Elend zulässt. Nun, das kommt daher, weil der Mensch frei ist, dies oder jenes zu tun, und daher jederzeit sündigen kann, ja muss. Ohne Sünde gibt’s keine Freiheit. Menschen, die nur Gutes tun, sind als frei nicht identifizierbar. Selbst Ratzinger ist nicht frei von Sünde. Stöhn. Und dann gibt es naturgemäß verzweifelte Menschen, Kinder mit Hungerbäuchen, die sich fürwahr nicht gut missbrauchen lassen; eine Schande, wie so was einfach durch das Fernsehen in die gute Stube rechtschaffener Bürger gerät, ohne die Verhungernden vorher gefragt zu haben, ob sie so gezeigt werden wollen - völlig nackt in aller Öffentlichkeit. Hier, schnell ein paar Taler für “Brot für die Welt”. Aber der Mensch lebt nicht vom Brot allein; nicht allein davon, dass er jeden Tag satt wird, sondern vor allem davon, dass er in seiner Verzweiflung nicht begafft, vielmehr mitfühlend-intim beachtet wird.

 

Werde ein Einzelner (Søren Kierkegaard, 1813 - 1855)
Hamburg, 21.11.2004

Wenn es einen imperativen Zwang gibt, dann den zur Stellungnahme. Dieser fördert wahrlich nicht immer Bequemes zutage. Unbequemes aufzuheben in einer über der Welt schwebenden Verheißung, verpackt in einer Idee, die den weltlichen Dingen inhärent und ihnen Wege, vielleicht sogar den Weg weist, ist denn auch Ziel einer jeden idealisierenden Philosophie. Sind Positionen aber erst einmal ideell-visionär zu einer Sache von Glauben oder Hoffnung transformiert, ggf. transformierbar bei Gefahr im Verzug, dann ist es geschafft: sie sind gegenüber Kritik dem Prinzip nach immun. Dann gibt es zwei Möglichkeiten: Mitglauben oder gleich weggehen.

Glaube muss nicht mehr aufgefasst werden als Glaube an Gott oder irgendeine übersinnliche Macht. Es reicht der Glaube an sich selbst und die eigenen Fähigkeiten, zum Beispiel Talent und Beflissenheit, gesellschaftliche und politische Konfliktpotentiale zum Objekt ästhetisierend-sprachlicher Bedürfnisse zu machen, wie dies Peter Sloterdijk im Philosophischen Quartet oder in einer kürzlich ausgestrahlten Fernsehsendung über sein Denken im ARTE-Kanal zelebriert. Dort geht Philosophie schwanger mit jeder Menge begrifflicher Dampfplauderei. Spiegelautor Henryk Broder bringt das Phänomen Sloterdijk mit seinem erfrischenden Schandmaul auf den Punkt: “Ein typischer Sloterdijk-Satz ist wie ein hochkonzentrierter Hefewürfel. Er strotzt vor Energie, windet sich in geistiger Ausdehnung und sprengt mühelos jede Backform, jedes Thema, jeden Horizont.” Und ein paar Zeilen weiter: “Was uns der Autor sagen will, man weiß es nicht.” (BRH-HBL) Er hätte hinzufügen müssen, die Eingeweihten wissen schon, wenn auch meist nur irgendwie was Genaues nichts.

Was, zum Teufel, hat ein “Denker auf der Bühne” zu suchen, könnte man sich auch fragen. So lautet der Titel eines seiner Hauptwerke. Im Übrigen fängt alles, was er schreibt, irgendwie mit “Haupt” an, weil er sich "für die Differenz" nicht nur in Bezug auf fremdes Gedankengut (Heidegger) "zuständig fühlt". In diesem Haupt... glänzt er durch Sprache, aber bläst auch zum ästhetisierenden Widerstand gegen die traditionelle Subjektivitätsphilosophie. Ihr gegenüber geltend macht er eine Philosophie der kosmopolitischen Vernunft (oh je, schon wieder), die dann in der Welt wohl alles mehr oder weniger richtet, vorausgesetzt wir besinnen uns und sind in der Lage, den Wortgirlanden von Sloterdijk zu lauschen. Dazu braucht es die Fähigkeit zum Genuss, die Fähigkeit eine Sache hinauszuzögern: der Weg ist das Ziel. Der Aussagekern eines Satzes muss warten, bis ihn Sloterdijk schließlich doch verrät. Auch wenn bis dahin so mancher Hörer an einer Unmenge locker-flockigen Sprachverdrehungen erstickt ist. Die Durchhaltewilligen werden belohnt durch einen ultimativen sprachästhetischen Orgasmus, der sie dann endlich besinnungslos niederstreckt. Am Ende schafft er noch jeden. Er sagt es ganz freimütig heraus, wenn auch mit leicht melancholischen Unterton, dass er vornehmlich den Genuss in der Sprache sucht, dass diese ihm sein Universum sei, und dass, bei aller Notwendigkeit, die Augen vor der schlechten Welt nicht zu verschließen, er eigentlich sonst gar nichts will und schon gar nicht geneigt ist, irgend etwas ausdrücklich einzufordern. Er besitze ein gesundes Misstrauen allen Philosophien gegenüber, die die Welt nur retten wollen, unsere Welt es eigentlich nicht nötig haben sollte, gerettet zu werden. Wörtlich lautet sein sibyllinischer Schlusssatz der ARTE-Sendung: “Eine Welt sollte keine Retter nötig haben.” Gott sei Dank will er sie schon mal nicht retten, ein untrügliches Zeichen, dass sie sich auf den Weg zur Besserung macht. Natürlich, eine rundum schlechte Welt wäre keine adäquate Welt, in der eine gute Philosophie gedeihen könnte. Und dann würden die Zuschauer ihn womöglich für jemanden halten, der sich einbildete, die Welt retten zu können. Und dass er so was nicht will, in aller Bescheidenheit, kann man sich denken. Gerade jetzt, wo er spät, kurz vor Ladenschluss, noch Vater geworden und seine Vatergefühle sich gerade so schön vermischen mit seinen philosophischen “Sphären”. Mit denen ist er gerade fertig geworden. Muss man diesen Dreck etwa lesen? Dann doch lieber Kierkegaard; der schreit seine Verzweiflung wenigstens heraus in die Welt, formuliert Erwartungen, sagt, dass er etwas von Menschen will, wenn auch aus radikal subjektivistischer Perspektive, nämlich eine christliche Kirche, die sich den Namen “Jesus” erst noch verdienen muss, bevor sie ihren Mund in seinem Namen aufmacht: “werde ein Einzelner”, Wahrheitszeuge, wie Jesus einer war, so sagt er. Am Ende nennt er Ross und Reiter, sagt, wen genau er meint: die Bischöfe Mynster und Martensen.

Die Welt retten tut er nicht; er rettet nicht einmal sich selbst. Er krepiert an eingestandener Verzweiflung. Doch hört er sich nicht selbstgefällig und verlogen an, wenn er zum Beispiel naiv und unbefangen bemüht ist, “Erbsünde” und “Sünde” aus einer menschlichen Grundbefindlichkeit der “Angst” heraus zu erklären. Solche Versuche, auch wenn sie nicht haltbar sein mögen, bestechen durch Menschlichkeit und gehören dadurch zu Recht der philosophischen Weltliteratur an. Dagegen sträuben sich einem die Nackenhaare, wenn man Menschen erlebt, die, ein wenig angedickt, vor allem schön sein wollen, in sterilem Ambiente, dazu in weichgewaschener Manier Menschen denunzieren, weil sie auf angeblich “hohem Niveau” jammern. Woher weiß Peter Sloterdijk das? Man hört eigentlich immer nur Millionäre jammern, wie wenig Bewegungsspielraum man ihnen lässt. Überhaupt: eine nichtssagende Begrifflichkeit, wie vieles bei Sloterdijk, die allein durch hohen Wiedererkennungswert besticht, Stammtischgewäsch auf höchstem Niveau. Will sagen: seht her, ich fühle.

Es gibt Abstufungen des guten oder schlechten Geschmacks, solche von Verlogenheit, die immer und überall anzutreffen ist: in Betrieben, in staatlichen Institutionen, in der Medienöffentlichkeit. Überall dort, wo sich soziale Körper konstituieren in Abgrenzung zum Rest der Welt, die sie als Verfügungsmasse zur Nährung ihrer eigenen Existenz auffassen. Bei Strafe ihres Untergangs müssen sich soziale Körper abgrenzen und isolieren gegenüber einer notwendig als feindlich empfundenen, wenn auch “nett” gewendeten Umwelt; nett gedreht, also verlogen, ist wichtig, weil man aus der Welt, die nur zu oft nichts Gutes verspricht, nach Bedarf saugen will. Zugegeben, etwas gedankenlos. Ja, ein fordernd kritischer Geist würde da stören und zum betrieblichen Sicherheitsrisiko.

Der höfliche Diener, den Habermas so schön aus der Geschichte herauspräpariert hat, ist gegenüber einem Außen verlogen. Dem Prinzip nach. Trotzdem wird überall gedienert, unentwegt. Wobei Höflichkeit weder gut noch schlecht. Höfliche Gesten werden immer, instinktiv, wie aus einem Reflex heraus, im Zusammenhang mit der sozialen Realität beurteilt, in die sie eingebettet und als Lust-Unlust-Gefühl wahrgenommen: Meint er das so, oder tut er nur so? Solche Fragen beschwängern das Denken und alle Verhältnisse unvermeidlich. Unmöglich, so etwas wegzuphilosophieren oder schön zu reden. Kunst mag demgegenüber als das mahnende Gewissen fungieren. Allein die immer wieder viel beschworene Rückbesinnung auf die guten (alten) Werte, Kompass für die Menschlichkeit, führt zu nichts. Wahrhaftigkeit konstituiert sich unterhalb der dünnen Schicht kultureller Werte, die es als solche nicht gibt und daher vielfach als Fiktion der Zerstörung durch die Kunst anheim fallen, um Platz zu machen für selbstbestimmte moralische Konstituierungen von unten.

Immer dort, wo Werte beschworen werden, kündigen sie das Ende einer Ära an. “Ich stehe hinter dir und werde dich, wie immer du dich entscheidest, mit ganzer Kraft unterstützen,” so Herbert Wehner im Frühjahr 1974 zu Willi Brandt, kurz vor seinem Rücktritt als Bundeskanzler.

Natürlich finde ich Habermas verlogen, wenn auch nicht so wie Sloterdijk, und ich rege mich, mag sein selbstgerecht, darüber von Zeit zu Zeit ziemlich auf. Umso mehr, als ich ihn persönlich nicht kenne und nie kennen lernen werde, und ich ihn daher nur als systemische Charaktermaske von Öffentlichkeit wahrnehme, deren Isolierung vom profanen Rest einer anonymen Nicht-Öffentlichkeit, wo menschliche Probleme ganz besonders hautnah, weil ungehört, erlebt werden, als ein ganz besonderes Ärgernis empfunden wird. Denn natürlich kommt Öffentlichkeit mit dem expliziten Anspruch daher, sich um die Probleme der Gesellschaft diskursiv zu bekümmern, und wird daher anders wahrgenommen als die privatwirtschaftliche Unternehmung, in der es um Sein oder Nichtsein im Kontext wettbewerblicher Handlungsorientierung geht. Private und staatliche Medien der veröffentlichten Meinung sind zwar im Prinzip den gleichen Konkurrenzprinzipien ausgesetzt. Auch dort sind Menschen, wenn sie Öffentlichkeit produzieren, um ihren Marktwert besorgt. Dennoch sind sie notwendig strengeren Beurteilungskriterien durch die profane Gesellschaft ausgesetzt, da Öffentlichkeit auch dem eigenen Anspruch nach sich um das Ganze, wie immer man dies fassen mag, zu bekümmern und dem einzelwirtschaftlichen Ego-Interesse nicht verpflichtet zu sein hat. Und auch Habermas ist ein Vertreter veröffentlichter Meinung, der Öffentlichkeit mitproduziert und zieht daher notwendig Unmut auf sich, den er als Privatmensch nicht verdienen mag. Und natürlich ist selbst diese beschwichtigende Aussage nicht frei von Heuchelei.

Wie dem auch sei, es gibt aber Stufen zunehmender Heuchelei wie es Stufen zunehmender Verantwortung gibt, und damit immer einhergehende Stufen von Verblödung bei Menschen, die ihre eigene Verlogenheit nicht wahrnehmen können oder wollen, weil sie immer schön fleißig sind und sich nach Kräften bemühen, und weil vor dem Gesetz schließlich alle gleich sind. Demgegenüber gibt es Moral als solche nicht, nicht den ethischen Wert als solchen, nicht den Sinn als solchen. Moral, bzw. der Wert als solcher ist wert-los. Der Sinn als solcher sinn-los. Leer. Reine Abstraktion. Hegel und auch sein philosophischer Widerpart Søren Kierkegaard, Zeitgenosse von Marx, deuteten das in ihren Philosophien an, jeder auf seine Weise: man sieht den Wald (Abstraktion), aber nicht die Bäume, die ihn tragen. Die Wahrheit ist immer vielgestaltig und vor allem konkret. Sie ist etwas, was im sozialen Kontext auszuhandeln ist. In Rede und Gegenrede. Weglaufen gilt nicht. Dazu bedarf es eines Mindestmasses an Bildung, was diese Gesellschaft dem Einzelnen schon lange nicht mehr gewährt. Man gucke nur mal, wer an den Unis so alles rumläuft. Und da meine ich nicht nur die Studenten. Aber Eliteuniversitäten fördern wollen.

Man muss sich von der Vorstellung lösen, als wären die Institutionen der Öffentlichkeit Räume mit besonderen Menschen, die grundlegend anders funktionierten als der anonym-profane Mensch. Menschen der Öffentlichkeit sehen sich den Konflikten der Gesellschaft nur in besonderer Weise ausgesetzt; sie agieren auf dem Präsentierteller, fühlen sich unter Beobachtung, die sie selbst nicht kontrollieren. Dadurch sie ein besonderes Recht für sich in Anspruch nehmen auf einen besonderen Schutz ihrer persönlichen Integrität, die ihrer herausgehobenen und exponierten Position entspricht. Sie bestehen auf Bodyguards gegen seelische Gewalteinbrüche. So was mag sich in dem Zwiespalt ausdrücken, einerseits etwas Besonderes zu sein, auf einem Piedestal sich gehoben zu fühlen und andererseits eigentlich doch nur ein normaler Mensch sein zu wollen, der nur einen scheißnormalen Job macht, mithin entsprechend behandelt zu werden wie jeder x-beliebige Mensch.

Eine solche Anspruchshaltung ist nicht realistisch, trotz überall zu hörender Einwände, vornehmlich im Konjunktiv formuliert, man solle sich doch nur einmal vorstellen, wenn man selbst in einer herausgehobenen Position wäre, - würde man sich da etwa anders verhalten? Natürlich würde man oder auch nicht. Egal, das Problem liegt woanders. Wir haben es hier mit sozialen Strukturen zu tun, die unabhängig vom Willen und Wollen einzelner Menschen existieren, die bestimmte Konfliktsituationen und Verhaltensweisen prädisponieren, denen sich niemand entziehen kann, und die es mehr schlecht als recht zu akzeptieren gilt. Andersherum würde so etwas wie kommunikativer Druck “von unten” ausdünnen. Fehlt ein solcher Druck, und er fehlt durch soziale Segregation zunehmend, verflacht Kommunikation, degenerieren Menschen zu Knechten ihrer eigenen Faktizität. Dann fehlt die frische Luft. Man bewege sich nur einmal eine Zeitlang im Dunstkreis politischer Parteien. Eine Extremsituation, gewiss. Sauerstoffmangel und Verblödung sind da ganz unvermeidlich. In dieser Hinsicht gibt es eine nach oben offene Richterskala. Man lasse sich nur einmal die Laudatio von Helmut Kohl  auf den Film “Der Untergang” bei der diesjährigen Bambiverleihung auf der Zunge zergehen, ganz zu schweigen von den betretenen Gesichtern der Untergangs-Beteiligten in der ersten Sitzreihe, von Bruno Ganz bis zu Bernd Eichinger, die sich dieses Geschwätz anhören mussten. Hat man sie gezwungen? Das erinnerte alles an eine heilige Messe, der Hitler beiwohnt als virtuelle Altarikone, dazu Kohl als Heiligenverehrer, der mit beiden Händen den Kelch hochhält und pastoral vor sich hinmenschelt: das ist mein Blut, und dann das Brot bricht: das ist mein Fleisch. Auf zum Abendmahl. Dass mir da keiner kotzt.

Die Dialektik gesellschaftlich vermittelter Heuchelei lässt sich wie folgt formulieren: Freiheit ist kein Abstraktum, sondern besteht in dem Druck, den Menschen in sich und durch ihre Verhältnisse selbst in dem Maße erzeugen, dadurch kommunikative Spielräume erst wachsen, wie dieser Druck naturwüchsig-despotisch von außen immer weniger zu erwarten ist, bzw. neutralisierbar durch technischen und sozialen Wandel. Unbenommen der Tatsache, dass es in der Gesellschaft immer wieder mächtige Kräfte gibt, die einen solchen Druck fundamentalistisch von außen wieder aufleben lassen möchten, wenngleich verbunden mit ungeheuerem Aufwand und einer kriminellen Energie, die sich christlich und fromm maskiert. Man stelle sich nur einmal vor, mit wie viel Aufwand der Irakkrieg erst öffentlich vorbereitet und am Ende realisiert wurde, wobei die zukünftigen Folgekosten zur Zeit immer noch nicht absehbar sind. Man will die despotische Demokratie um jeden Preis, den chaotischen Nebel, in dem sich prächtig im Trüben fischen lässt. Und schreckt dabei vor Mord und Totschlag nicht zurück. Und am Ende wird es dann nur ein Missverständnis gewesen sein, wie damals der Vietnamkrieg. Man dachte, dass die Vietnamesen mit China zusammengehen wollten. Dass sie das gar nicht wollten, stellte sich erst nach dem Krieg heraus. Millionen von Toten wären eigentlich gar nicht nötig gewesen, so Robert S. McNamara in der Filmdokumentation “The Fog of War” (USA 2004). Ganz schön dumm gelaufen.

Was den selbstdisziplinierenden Druck betrifft, der naturgemäß als ein subjektiver erfahren wird, sei eine zusätzliche Bemerkung erlaubt: Nicht nur ein solcher Druck ist gemeint, den ein jeder Einzelne in sich selbst erzeugen mag (werde ein Einzelner, denn die Wahrheit ist immer nur subjektiv), sondern auch und gerade der, den sich der Einzelne durch die Verhältnisse, also durch andere notwendig ausgesetzt fühlt und aussetzen muss. Genau hier setzen alle Konflikt-Vermeidungsstrategien an, die kommunikative Verweigerungshaltungen – Formen von Ausgrenzung – konstituieren, die wiederum interaktive Fähigkeiten und Spielräume aushöhlen.

Und was die Institutionen der Öffentlichkeit betrifft, dort werden die Isolierungs- und Immunisierungsstrategien von der geballten Macht der profanen Instinkte entweder nur notgedrungen oder aber gar nicht akzeptiert. Die einen, einer ”ethischen Lebensweise” (Kierkegaard) verpflichtet, brechen zusammen unter der Last eines stark mitfühlenden Gewissens. Sie fühlen sich ertappt, sind tatsächlich bedürftig, vielleicht sogar neidisch. Die Furchtlosen dagegen sagen: Die Neiddebatte wird geführt, meine Damen und Herren Unternehmer, im Notfall auch ohne euch.

 

Wettlauf der Gefühle
Hamburg, 16.12.2004

Die Fähigkeit, große Geister und ihre Werke naiv, unbefangen und perspektivisch anzugreifen, scheitert nicht selten am geballten Wissen, das diese in dünkelhafter Demut für sich beanspruchen, das einen Kritiker gleich zu Beginn in Erfurcht erstarren lassen soll. Betrachter der bildenden Künste haben es leichter. Sie verdanken ihre Urteile notwendigen Assoziationen, die ...
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Heimat
Hamburg, 23.12.2004

Ist es legitim, Worte wie "Würde", "Liebe", "Identität", "Selbst", "Gott", "Seele", "Unsterblichkeit", "Geist", etc. als Begriffe in den wissenschaftlichen Diskurs einzubringen? Die Frage ist schwierig, nicht nur vor dem traditionellen Hintergrund eines unterschiedlichen methodologischen Vorgehens von Natur- und Sozialwissenschaften. Von einer Gemeinsamkeit beider Wissensbereiche kann ...
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Naturgeister
Hamburg, 05.01.05

Der Mensch ist im Nexus von Gefühl und Trieb ganz Natur, darüber Kultur als Oberfläche sublimierter Triebe sich stülpt. Oh, du schöner Trieb. Der verbürgt unterhalb der dünnen Oberfläche zivilisierender Kultur Authentizität, bzw. Wahrhaftigkeit im Ausdruck, eine liebgewonnene Kopfgeburt bürgerlicher Phantasie. Wenn da nur nicht sämtliche Hühner in schallendes Gelächter ausbrechen. Wahrhaftigkeit als Wert, den wir der Natur verdanken. Wenn einer einen richtigen Satz "unecht" aufsagt, ist er nicht richtig. Nun denn, wirklich wahrhaftig sind Wahrheitsansprüche als kulturanthropologische und soziale Kategorie, und die hat mit Natur notwendig irgend was zu tun. Schließlich stammen wir von der Natur ab – irgendwie. Trieb und Natur gibt es, schließlich läuft ein jeder damit herum, auch irgendwie. So wie der Fisch mit seinen Flossen im Wasser schwimmt. Hat der Fisch Flossen deshalb, um sich mit ihnen im Wasser zu bewegen? Als bedürfe die Natur um uns herum natürliche Beweggründe, damit sie sich entwickle.

Es gibt Triebe und es gibt Kultur. Weiter ist da nichts. Der Mensch ist Kulturwesen oder gar nichts, ohne Kultur weniger als ein Automat: unberechenbar – im Grunde weniger als ein dressierter Köter. Im Kontext von Kunst und Kultur werden soziale Geltungsansprüche entwickelt. Zwischen beiden Seiten, dem Sozialen und der Kultur, gibt es im Ernst keine Differenz. Ohne das Soziale und die Kultur ist der Mensch weder Natur noch Mensch. Mit diesem Mangel sollte man die unschuldige Natur und Triebe nicht identifizieren, gestalten diese die lebendig tierische Existenz doch instinktgeleitet, will sagen: einigermaßen berechenbar. In unserer kulturabstinenten Welt dagegen können wir froh sein, wenn Menschen sich wenigstens wie halbwegs dressierte Köter benehmen. Die einen, kaum erwachsen, schießen wildwütig, ohne erkennbaren Anlass in Schulen herum, die anderen, alt und weise, legitimieren und führen mit genau erkennbaren, wenn auch uneingestandenen Motiven völkerrechtswidrige Angriffskriege. Und foltern wie wild. Und der eingebildete und verschreckte Bürger? Der putzt sich – abseits seines Laufrads alltäglicher Verrichtungen – heraus für Oper und Theater und wundert sich über den immer gleichen Dreck in der Politik; bestenfalls ist er wütend, aber nur wenn keiner guckt. Er hat die Nase voll von Politik. Als könne man dieser entrinnen. Als würde sie nicht das Leben im Guten wie im Schlechten bestimmen. Ein vor sich hin plappernder Automat. Man steckt etwas hinein und es kommt Vorhersehbares heraus. Stöhn.

Dass Kultur als stärkstes Moment von Zivilisation auf Trieben gründet, ist weiter nichts als eine liebgewonnene Leerformel, die man als wichtige Wahrheit allein deshalb immer vor sich herträgt, weil seit Freud Philosophen und Psychologen sie immerzu wiederholen, bis man sie wie ein antiquarisches Möbelstück nicht mehr in seiner Gedankenwelt missen möchte. Und weil man meint, hin und wieder was sagen zu müssen, um seine Mundwerkzeuge zu bewegen. Ja, der Mensch ist nicht Herr im eigenen Haus. Woran das wohl liegen mag? Vielleicht gibt es Kultur ja nur deshalb, weil sie Freude macht – so wie Babys vor Vergnügen quietschen, wenn man mit ihnen spielt – vor allem aber ganz und gar nicht deshalb, weil der Mensch gebändigt werden muss oder zu Sünde neigt, oder weil der Mensch des Menschen Wolf ist, wie Hobbes und die meisten anderen naturrechtlich orientierten Aufklärer weismachen wollten in der Absicht, einen aufgeklärten – weil an einen sozialen Zweck gebunden – Absolutismus zu rechtfertigen, bestenfalls einen mit eingebauter Gewaltenteilung.

Da wo der eingebildete Bürger Kulturtheorie betreibt, ist der Pfaffe nicht weit. Für beide ist es nur zu bequem, Spannungen, die durch einen, von der Kapitalverwertungsökonomie selbst produzierten Mangel in den sozialen Körper eingezogen werden, immerzu auf naturwüchsige Ursachen, zum Beispiel den menschlichen Trieb, an dem Sünde irgendwie klebt, zu schieben; auf Sünde, die es als unberechenbare Naturwüchsigkeit zu bekämpfen gilt, damit gute Moral und Tugend rein hervortritt. Das Böse gegen das Gute. Kampf muss sein. Schließlich gibt es Probleme.

Dabei erzeugt schon Kultur als soziales Spiel Lust und Befriedigendes aus sich selbst heraus. Was soll da die Natur? Trotzdem steht Triebnatur als Subtext auf jedem Kunstprodukt, weil alle Welt daran glaubt und Mangelgefühle erleiden würde, wenn nur kleinste Bruchstücke von diesem in Stein gemeißelten Sinn abhanden kommen würden, als ginge das Abendland zugrunde, wenn Kunst und das, was man Wahrhaftigkeit im Ausdruck nennt, ganz konkret und nur wenig autonom auf soziale Interaktion verweisen würde, die den Mangel als solchen gar nicht kennt, vielmehr nur den, den man ihr über Ökonomie und Konsumterror, einer Gehirnwäsche gleich, aufnötigt.

Da, wo der Mangel aus der Natur kommt, fehlt es an interaktiver Hilfsbereitschaft meist nicht. Nur da, wo er durch den Menschen und seine Ökonomie eingezogen wird, braucht es den Delinquenten, der an allem Schuld, braucht es uneingestandene, ja bestialische Opferrituale, die ihresgleichen suchen – etwas, was sämtliche Hochkulturen gar nicht kannten. Die wussten immer ganz genau, warum sie opferten. Zur Beruhigung ihrer Gottheiten. Die Heuchelei kam erst mit dem Bürger. Der mag sinnlose Opferrituale - wie die Todesstrafe - nicht missen und nennt so was - zur Entlastung der Gesellschaft - Strafe oder Abschreckung, zuweilen sogar: Herstellen von Gerechtigkeit. Er will vergessen machen, dass das Verbrechen ein sozialkulturelles Produkt ist. Noch Goethe und Kant glaubten, dass eine Gesellschaft die Todesstrafe benötigen würde. Der postmoderne Kleinbürger hat dieses widerliche Opferbedürfnis vom Bürger geerbt. Ist es nicht eine Lust, einen fiesen Kindesentführer so lange zu quälen, bis er redet? Und ist so was etwa nicht Kultur? Das Schöne daran ist: sie kostet nicht viel. Blöd sein reicht da völlig.

 

Ich glaube, also bin ich
Hamburg, 14.01.05

Nicht dass der Mensch funktioniert oder auf Funktionen verweist, ist erbärmlich, sondern dass die Gesellschaft ihn auf die eine Funktion der Verwertbarkeit: auf reine Ökonomie festnagelt, und weitere Voraussetzungen nicht duldet. Denn Außerökonomisches hat sich als Verfügungsmasse dem Primat der reinen Ökonomie unterzuordnen, Politik und Kultur zu formulieren nach Kassenlage. Der Bürger ...
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Der ich bin in Ewigkeit
Hamburg, 12.02.2005

Wo soziale Welten unproblematisch existieren, zuweilen wollen bis hin zum Starrsinn, lassen sie sich in quasi-universale Konstruktionen einkleiden. Idealisierend. Dann gedeihen Glauben oder sonstige elitäre Schrullen, auch wenn sie ...
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Fossile Reflexe: Habermas vs. Theunissen
Hamburg, 26.03.2005

Sind wir nicht alle einsam? Zumindest irgendwie? Also muss es dazu auch eine Philosophie geben; andernfalls unsere Einsamkeit ohne jeden Sinn wäre. Und so reflektiert Professor Michael Theunissen eine Philosophie, die – subjektfundiert – dem einsamen Subjekt einmal mehr größeren Raum einräumt, der sich Habermas in wohlwollend-kritischer Solidarität verpflichtet fühlt.
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Gespensterkarneval der Gefühle
Hamburg, 01.05.2005

Kann man sich versündigen am Leben eines anderen: an einem Impuls, der auf gelingendes Leben zielt? Und wenn, wo fängt Verantwortlichkeit an? Das ist eine Frage, die im philosophischen Selbstverständnis von Jürgen Habermas durchaus erheblich ist, auch wenn er immer wieder merkwürdig nach Aufklärung nörgelt hinsichtlich der internen Bedingungen für gelingendes Leben, die sich gleichwohl im Normativ-Faktischen spiegeln, einem Außen, das Verantwortlichkeiten für andere nahe legt. Menschen müssen so sein wie sie intuitiv ohnehin schon sind, was ihnen gleichwohl zu wenig bewusst sein kann. Dann ist zu wenig Wissen verantwortlich – zu wenig bewusstes Wissen über sich selbst. Ja, wann denn weiß der Mensch genug? Noch nicht, denn siehe da, die Welt ist schlecht. Ersetzt man in diesem Satz das Verb "wissen" durch "glauben", lautet die Frage: Wann "glaubt" der Mensch genug? Und dann steht dem Glaube an “Großes” nichts mehr im Wege: der Übertritt zum katholischen Glauben, zu einem Glauben an einen ganz und gar personalen Gott, vielleicht mit weißem Bart. Solche Karrieren kennen wir aus der Romantik um 1800 herum (darüber schon Marx sich lustig machte), zum Beispiel in der Person des Romantikers Friedrich Schlegels (*1772), der im ideologischen Dienst von Metternich (Österreich) politisch zum Glauben an eine Reaktivierung des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nationen konvertierte und darüber mit seinem eher pantheistisch angehauchten Bruder August Wilhelm Schlegel brach. Letzterer verglich den inneren Dialog zwischen Mensch und Natur mit der Kommunion, dort durch kontemplative Versenkung in das (eigene) Mensch-Natur-Verhältnis er ein Spannungsverhältnis zwischen Begrenztem und Unbegrenztem, Endlichkeit und Ewigkeit witterte.

Nur zu wahr. Leicht lässt sich immerzu nach internen, zugegeben: sozialisationsfundierten Bedingungen fragen, die sich aufklären lassen, ohne die gelingendes Leben nicht möglich, und die gelingendes Leben dann nicht einmal garantieren können. Lauern Begrenzungen doch überall. Entweder durch zu wenig Wissen oder durch zu wenig Glauben, was einerlei, am Ende wird man immer glauben und hoffen müssen – ein mentaler Zustand aus der Perspektive eines bequemen Zustands. Wobei es schon vorkommen kann, Bedingungen zu vergessen, insbesondere wenn diese unbequem, zum Beispiel makroökonomische Bedingungen für gelingendes Leben, die, am Profan-Irdischen klebend, sich schwerlich in Begriffe der Unendlichkeit transformieren lassen. Wie angenehm, dass Menschen sprechen müssen, um sich zu verständigen, so dass man nach Herzenslust alles mögliche formalpragmatisch befragen kann, zugegeben: Fragen nicht mehr allein an Ewigkeit verheißende Natur (im Menschen), politisch aber nicht weniger folgenlos.

Bei ökonomischen Fragen fängt Verantwortlichkeit wirklich an. Es ist ungefährlich und bequem, außerökonomische Voraussetzungen zu diskutieren, ob nun rein subjektiv oder intersubjektiv fundiert, nicht nur weil wir derart immer im Reich bloßer Möglichkeiten (Verheißung) verbleiben – folgenlos, die es gestatten sich herauszuhalten: in seinem Gutmenschendasein selbstgefällig sich einzurichten nach Gutsherrenart, sondern weil darüber hinaus die eigene ökonomisch-komfortable Lage quasi besser als naturwüchsig-verdient legitimiert werden kann. Aus der Perspektive eines psychisch Kranken oder Arbeitslosen, überhaupt eines Ausgegrenzten: nichts als unerträgliche Heuchelei: ein System der organisierten Heuchelei, die sich noch dazu etwas auf ihre edlen, mitfühligen Motive einbildet, darauf, dass man sich mit Diskurspartnern noch im diskursiven Streit so schön versteht, weil man großzügig, ja edelmütig ist, einem mittelalterlichen Ritter nicht unähnlich, der die schöne Prinzessin gegen den schwarzen Ritter beschützt.

Schade, dass nicht alle Menschen gut und edel sind. Unangenehme Ausnahmen, die der Exkommunikation bedürfen, gibt es immer. Dann darf auch mal der Knüppel aus dem Sack. Im Falle von Theunissen kann er im Halfter bleiben, auch wenn seine Philosophie beunruhigen mag. Ebenso im Falle von Philosophen konservativen Zuschnitts, sogar im Falle des abscheulichen Ratzinger, der plötzlich zu einem ganz anderen geworden, zum päpstlichen Übervater, der seine Kindlein nunmehr zu sich kommen lassen kann, ja muss. Einige müssen fortan draußen bleiben, zum Beispiel Kardinal Lehmann, der nur allzu gern der römischen Kurie angehören würde, um aus seinem deutschen Provinznest herauszukommen, vielleicht gar gern Ratzingers Nachfolger als Präfekt der Heiligen Inquisition geworden wäre. Mit 'ner eisernen Maske, hinter der Menschliches verwesen mag, laufen diese Gespensterfiguren alle rum, bei Ratzinger ist sie jetzt noch ein wenig fester geschnürt. Er fühlt sich wohl dahinter und ist dankbar, dass er sie tragen darf, hinter der sich ausgegrenztes Leben, auch eigenes Leben, schön verbergen lässt. Er ist das Oberhaupt einer Gespenstermaskerade ohne Bezug zu profan-menschlichen Nöten. Diese führen sie nur wie Sprechautomaten im Munde. Am deutlichsten wird dies in der sogenannten Kapitalismuskritik der Kurie – nichts als folgenloses Gefasel, darüber Philosophen gerührt sein mögen, die sich in der marxistischen Tradition begreifen und Tränen vergießen mögen, dass marxsche Gedanken nunmehr auch Eingang gefunden bei den Gralshütern konservativen Geistes. Spricht Ratzinger doch immerhin von einer "ungebändigten Weltgesellschaft, in der der kapitalistische Markt zur Pseudoreligion würde ohne Raum für Fragen nach Sinn und Gerechtigkeit". Nicht nur dass dieser Satz mit Marx nichts zu tun hat; er ist auch falsch: Eine Wirtschaft ohne Markt ist schlechterdings nicht denkbar. Markt ist weder gut noch schlecht – er ist ein Instrument unseres Wirtschaftssystems, um nicht zu sagen neutral. Schon gar nicht ersetzt er Religion. Im "Kapital" von Karl Marx steht nicht ein Satz, in dem er den Markt, bzw. den Marktmechanismus als solchen schlecht oder gut redet. Vielmehr werden Märkte durch mikro- oder makroökonomische Größen im Sinne bestimmter Interessen, die singulär oder gesamtgesellschaftlich ausgerichtet sein können, sozial verträglich oder sozial unverträglich bewirtschaftet im Rahmen eines genau definierten Regelwerks, das - ohne Frage - bis heute vornehmlich singuläre Interessen: ökonomisch Privilegierte schützt. Dagegen sieht Ratzinger im Marktgeschehen nur eine Konkurrenz für den katholischen Glauben, weil er keine Ahnung hat von Ökonomie. Aber Leute stehen da, in Rom, schauen tränennass zu ihm auf, weil sie “Großes” wollen wie er, kein Geld, um immer nur zu konsumieren, und machen dabei, gelinde gesagt, einen etwas ungebildeten, um nicht zu sagen einfältigen Eindruck.

Dabei kann es einem kalt den Rücken runterlaufen, wenn Ratzinger von Benedikt von "Brüdern und Schwestern" redet. Was auf Habermas nicht zutrifft. Der nimmt Worte für bare Münze. Der glaubt an die formende Macht von Worten. Schließlich mögen sie Hörer verführen, Menschliches, das sich hinter ihnen verbirgt, einlösen zu wollen. Und schon sind wir mitten im sozial-kommunikativen Prozess, so was immer anrührt, insbesondere, wenn man mit solchen Prozessen praktisch gar nichts zu tun hat. Wozu auch irgend etwas vernehmlich in der Öffentlichkeit einlösen wollen. So was hört sich allzu schnell nur schräg an. Gefährdet wertvolle Beziehungen. Irgendwie nicht gut. Außerdem ist man ja schon aufgeklärt, im Zuge eines langen wissenschaftlichen Lebens ein großer Haufen an Worten, pardon: an Wissen innerlich angehäuft, sozusagen dem eigenen Selbst assimiliert, eine letzte und höchste kognitive Kompetenzstufe schon lange erreicht. Ist das etwa nichts? Wozu wagemutig und allzu riskant ins Leben eingreifen, als gäbe es eine knackige Prinzessin zu schützen. Wer weiß, was das für zerstörerische Folgen hat. Tränen der Gerührtheit für und ob so viel Papst in uns muss reichen, und Tränen traue ich Habermas zu. Das ist menschlich, ja unvermeidlich. Doch auch irgendwie gespenstisch. Ein Gespensterkarneval der Gefühle.

 

Vom Primat der Charakterlosigkeit
Hamburg, 17.05.2005

Es ist nicht gleich unangenehm, wenn Habermas – wie im Falle von Theunissen oder konservativen Kollegen – mitfühlend warmherzige Solidarität walten lässt, wie aus einem Diskussions-Anhang zu seinem rechtsphilosophischen Werk "Faktizität und Geltung" (HAJ-FUG) hervorgeht. Denn soziale Wahrheit lässt ...
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Kritik der instrumentellen Vernunft
Hamburg, 01.07.2005

Nicht dass man von einer Sache – ob aus Film, Wissenschaften, Technik, u.a. – viel versteht, ist primär. Vielmehr am Profanen, das soziales Interesse formuliert, haben sich Sachen auszurichten. Alle Experten dieser Welt erzählen uns...
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Anmerkungen

1] Habermas formuliert sein Konzept sprachgestützter Verständigung in Abgrenzung von erzwungener Verständung, die zweck- und erfolgsorientiert. Ein erzwungenes Einverständnis "kann subjektiv nicht als Einverständnis zählen. Einverständnis beruht auf gemeinsamen Überzeugungen." (HAJ-TK1, S.387) Sprache kann ja so verräterisch sein. Postuliert Habermas auf der subjektiven Ebene etwa verhandelbar Gegenständliches? In dem Moment, wo verhandelt wird, gibt es diese subjektive Ebene de facto nicht mehr.

Fest steht aber, dass Gewalt keinesfalls ins Spiel kommen dürfe. Das wäre Nötigung, Druck, etc., gar nicht mehr gut. Wie beurteilen, dass dort, wo angeblich Gewalt nicht im Spiel, sie nicht dennoch im Spiel als versteckter Mechanismus. Nun, Habermas setzt Bildung: “sprach- und handlungsfähige Subjekte”, voraus, die intuitiv wissen, ob erzwungene Einflussnahme vorliegt oder nicht, ohne dass dies, empirisch dingfest, aus der Perspektive eines unbeteiligten Beobachters zu entscheiden ist. Doch wieviel Bildung muss sein? Gibt es nicht auch den blasiert Gebildeten. Fest steht, ob unzulässig Nötigung vorherrscht, muss jeder Beteiligte einsam, ganz für sich entscheiden. Darum kommt auch Habermas nicht herum. Die Quadratur des Kreises besteht darin, Subjektives empirisch verifizierbar zu einem verhandelbaren Gegenstand im intersubjektiven Kontext zu machen.

Die Sache wird nicht besser, wenn Habermas von subjektiven Bedingungen für objektivierbare, also intersubjektiv verhandelbare Geltungsansprüche spricht. Man kommt sprachlich gesehen um ein “weil...” nicht herum, das jeden subjektivistischen Geltungsanspruch (wir unterstellen, dass es einen solchen gibt) auf den interaktiven Geltungsbereich verweist, auf etwas, das von mindestens zwei Menschen zu verhandeln. Auch Bedingungen sind außerhalb subjektivistischer Geltung angesiedelt zu verstehen. Es bleibt das Problem einer plausiblen Innen-Außen-Verknüpfung, um zu vermeiden, dass moralisch-soziale und subjektivistische Geltungsansprüche diffus in eins gesetzt werden, wo Habermas sie doch, warum auch immer, säuberlich voneinander differenziert verstehen will.

Es ist nicht weniger diffus, wenn er sagt, dass die innere (subjektive) Welt komplementär zur äußeren Welt existieren würde. Beides also irgendwie zusammen gehört. Eine Nullaussage. Alles geht irgendwie durchs Subjekt. Was soll das heißen, ohne dass konkrete Verbindungslinien sichtbar werden, Gelenkstellen, die ein Subjekt an die äußere Welt anbinden. Oder anders herum: wo sind die empirisch nachvollziehbaren Kriterien einer strikten Trennung? Da, wo Komponenten voneinander getrennt analysierbar und doch zusammenhängen, bedarf es einer Schnittstelle, über die Komponenten kommunizieren, sich austauschen. Wir wollen an dieser Stelle gar nicht behaupten, systemische Begrifflichkeiten für die moralisch-soziale Analyse fruchtbar machen zu können. Sogenannte Gelenkstellen in der sozialen Welt sind außersubjektiv zu definieren als moralische Maxime (du sollst nicht foltern), die sich immer wieder im Konflikt mit interaktiven Interessenlagen befinden, dadurch sich die Qualität von Vergesellschaftung messen lässt. Diese funktioniert nicht nach dem interaktiven Modell, auch wenn ohne Interaktion nichts funktioniert. Anders gesagt: sie funktioniert nicht unter dem Gesichtspunkt einer Koinzidenz zwischen gesellschaftlichen Ansprüchen einserseits und subjektiven oder intersubjektiven Ansprüchen andererseits, erst dadurch, dass Maxime als gesellschaftliche Ansprüche nicht verhandelbar, gegen interaktive Interessen niemals zur Diosposition stehen. Vergesellschaftung vollzieht sich auch nicht unter dem Gesichtspunkt des Funktionalen, dem naturgemäß etwas fraglos-unproblematisches anhaftet, wo Komponenten, maschineller Natur, fraglos aufeinander verweisen. Im Gegenteil, im Zusammenhang mit Vergesellschaftung prallen immer wieder gegensätzliche Ansprüche aufeinander: interaktive und gesellschaftliche Ansprüche. Letztere manifestieren sich in moralischen Maximen wie z.B. der von der Würde des Menschen: du sollst nicht foltern.
 
Wir glauben, dass empirisch nachvollziehbar so etwas wie eine subjektive (innere) von einer sozial-moralischen Komponente sich durchaus mehr als nur diffus, sozusagen nach Gutsherrenart, abgrenzen lässt, dass sich durchaus sagen lässt, was das einsame Subjekt trennt vom intersubjektiven Kontext. Dieses Etwas ist nur negativ formulierbar, also Dinge im Subjekt, die nicht verhandelbar sind, die das einsame Subjekt nicht äußern möchte, vielleicht weil es den intersubjektiven Kontext belasten würde, um ein krasses Beispiel zu nennen: sexuelles Verlangen Kindern gegenüber. Aber auch wenig Gravierendes mag nicht verhandelbar sein. Habermas ahnt durchaus, dass da Hasen im Pfeffer stecken, aber eben nicht, wo diese stecken: Er will auf der Ebene subjektivistischer Geltung nachvollziehbar sein, und da will er einen intersubjektiv verhandelbaren Gegenstand in eben dieser Welt sogenannter subjektivistischer Wahrhaftigkeit (im Ausdruck), und findet ihn immer wieder in der interaktiven Welt sprachgestützter Verständigung.

Das läuft einmal mehr auf die Frage nach dem Innen-Außen-Verhältnis hinaus, auf Auseinandersetzungen, die Habermas zufolge längst geschlagen sind, und trotzdem nötigt er sich diese einmal mehr auf: Er ist empirisch auf intersubjektive Nachvollziehbarkeit bedacht, versetzt mit einer gehörigen Portion subjektiv zu bestimmender (Begriffs)Qualifizierung im Hinblick darauf, wo Verständigung anfängt und wo sie aufhört: wo sie nicht mehr wirklich, vielleicht nicht “wahrhaftig im Ausdruck”, stattfindet. Entweder weil eine zu diffuse Stimmung im Einverständnis oder weil zuviel gefühlte Einflussnahme - Indoktrination, erzwungenes Einverständnis - vorherrscht. Zitat:

“Mein Ziel ist nicht die empirische Charakterisierung von Verhaltensdispositionen, sondern die Erfassung allgemeiner Strukturen von Verständigungsprozessen, aus denen sich formal  zu charakterisierende Teilnahmebedingungen ableiten lassen. Um zu verstehen, was ich mit verständigungsorientierter Einstellung meine, muss ich den Begriff der Verständigung analysieren. Dabei geht es nicht um die Prädikate, die ein Beobachter verwendet, wenn er Verständigungsprozesse beschreibt, sondern um das vortheoretische Wissen kompetenter Sprecher, die selber intuitiv entscheiden können, wann sie auf andere einwirken und wann sie sich mit ihnen verständigen. Wenn wir die Standards, die sie diesen Entscheidungen implizit zugrunde legen, explizit angeben können, hätten wir das gesuchte Konzept der Verständigung. Verständigung gilt als ein Prozess der Einigung unter sprach- und handlungsfähigen Subjekten. Allerdings kann sich eine Gruppe von Personen in einer Stimmung so eins fühlen, die so diffus ist, dass es schwer fällt, den propositionalen Gehalt (...) anzugeben, auf den sich diese richtet.” (HAJ-TK1, S.386)