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Die Politisierung des Bürgers
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Evil does not exist (Japan 2023, Start 18.04.2024)
Regie und Drehbuch: Ryusuke Hamaguchi
Besprechung von Franz Witsch
Hamburg, 05.03.2024
Der Film erzählt auf berührende Weise über den Einbruch des Kapitals ins ruhige und beschauliche Leben eines Dorfes in der Nähe von Tokio. Dabei gibt er unprätentiös in langen und ruhigen Einstellungen dem Zuschauer die notwendige Zeit, damit sich in ihm Gefühle der Trauer langsam aber sicher ausbilden können, und zwar darüber, dass Menschen zwar wissen oder zumindest spüren, worum es geht, indes ohne dass sie in der Lage wären, ihr Wissen hinreichend fruchtbar zu machen, um Empathie sowohl untereinander wie auch zwischen den verfeindeten Lagern nicht nur eingebildet, sondern real (tatsächlich) auszuleben. Sehr sehenswert.

Joan Baez –  I Am A Noise (USA 2023, Start 28.12.2023)
Regie: Miri Navasky, Karen O'Connor, Maeve O'Boyle
Besprechung von Franz Witsch
Hamburg, 17.11.2023

Der Dokumentarfilm ist in der Tat ein außergewöhnliches "Porträt der legendären Folksängerin und Aktivisten Joan Baez", in dem sie sich, und darin besteht ihr Verdienst, zum offenen Buch macht; sie spricht bemerkenswert offen über ihre psychischen Störungen, die sie zu einer schwierigen Person für ihre Mitmenschen in der Familie, schon früh zur ihrer Schwester Mimi machte, und später zu all ihren Lieben, insbesondere ihrem späteren Ehemann, weil sie, wie sie selbst einräumt, zu verrückt war; verrückt genug, um sich zur weltumspannenden Singularität des Widerstands gegen Kriege, vor allem den Vietnamkrieg, und alle Ungerechtigkeiten dieser Welt zu stilisieren; bipolar gestört: mit lichten Höhen und dunklen Tiefen, die sie in ihrer 60-jährigen Karriere durchlebte: für Menschenmengen in den Konzertsälen und auf Demonstrationen, gar für die Revolution.

Derart ging sie ganz und gar in “leeren” Abstraktionen auf: ihren Vorstellungen von einer gerechten, gewaltfreien Welt, die sie – vollkommen wirklichkeitsfremd – durch ihre Person bewegt wähnte. Um jedesmal zu erfahren, dass sie die Welt immer nur für den Moment bewegte, den sie geradezu wahnwitzig in die Zukunft einer besseren Welt esoterisch visionierte, unbelehrbar: jedesmal um zu erfahren, die Welt bleibt wie sie ist: mehr noch: bis heute immer brutaler, ungerechter auf einer nach oben offenen Richterskala.

An dieser Stelle vermochte wäre es vielleicht hilfreich, wenn sie es vermocht hätte, sich ein wenig zurückzunehmen, die Bedeutung ihrer Person im Hinblick auf die Welt zu relativieren, um sich politisch wirksamer um ihre engere Umgebung zu bekümmern. Ging nicht. Stattdessen lebte sie nach dem Entweder-die-ganze-Welt-oder-nichts-Prinzip. Die “leer”- visionäre Abstraktion war ihr alles, die engere Umgebung nur wenig wert. In dieser scheiterte sie denn auch bis zum Lebensende, bis auf ein paar Momente, in denen sie ihre Mutter in den Tod begleitete, als wolle sie sich dafür entschädigen für die Vermutung, dass sie vom Vater als junges Mädchen sexuell missbraucht wurde.

Das spricht Joan Baez im Film auf berührende Weise aus. Mehr noch. Sie legt ihre psychischen Störungen schonungslos offen; sogar ihren Psychiater ließ sie aus einer Therapiestunde heraus zu Worte kommen ließ, der für meine Begriffe ihre Störung vertiefte, vermutlich weil er die Problematik ihrer Störung ausschließlich in der Kindheit lokalisierte; den Akzent auf Gefühlstiefe legte, anstatt auf näherliegende Gründe im Alltag, Vielleicht machten psychische Störungen ihr ja zu schaffen, weil sie lebenslang dazu neigte, Menschen, die ihr etwas bedeuteten, zu überhöhen, von denen sie obendrein noch zur übermenschlichen Ikone stilisiert wurde.

Das ging regelmäßig nicht gut. Zurück blieb Joan einsam und verlassen in ihrer Liebe zur leeren Abstraktion: einer anonymen Menge, aus der heraus sie sich von einzelnen Menschen geradezu rührselig-messianisch feiern ließ, was in ihr für kurze Momente große Gefühle auslöste, die schnell verglühen, und die der Alltag zu erzeugen nicht bereiht war - es sei denn im Drogenrausch, in den sie nach dem Vietnamkrieg verfiel. Im ewigen Party- und Drogenrausch war sie kaum in der Lage, ihre geradezu manische Sucht nach großen Gefühlen zu zügeln, geschweige hinreichend zu reflektieren, um Höhen und Tiefen ihres Lebens erträglich herunterzufahren.

Sie war und ist halt kein analytischer Kopf. Dafür verdiente sie mit ihrer Kunst ein Vermögen, mit dem sie ihr Leben bis ins hohe Alter mehr recht als schlecht gestalten konnte, von Menschen umgeben, von denen sie sich, so gut es noch ging, bewundern lassen konnte, was ihre Einsamkeit vielleicht etwas abmilderte.
 

Die Mittagsfrau (Deutschland Schweiz Luxemburg 2023, Start 28.09.2023)
Regie:  Barbara Albert
Kurzbesprechung von Franz Witsch
Hamburg, 27.09.2023
Der Film "Die Mittagsfrau" hat sich einiges vorgenommen: er zieht einen großen biografischen Bogen der Jüdin Helene (Mala Emde): von ihrer Kindheit, kurz nach dem Ersten Weltkrieg, bis nach dem Zweiten Weltkrieg zu Beginn der 1950er Jahre. Ihre Biografie ist in dieser Zeit durch Brüche geprägt, die die Übergänge von einem zum jeweils nächsten Lebensabschnitt markiert, freilich nicht in sich stimmig oder recht holzschnittartig.  Ohne hier auf die einzelnen Lebensabschnitte näher einzugehen, nur so viel: Helene findet zu ihrem Ehemann Wilhelm, einem Nazi in der Zeit des “Dritten Reichs” (Max von der Groeben) keinen Zugang, der ihr, zunächst unsterblich in sie verliebt, eine neue, nicht- jüdische Identität verschafft, und den sie deshalb heiratet in der Erwartung, dass sich zwischen ihnen noch eine tragfähige Beziehung entwickeln kann.
Indes prallen bald nach der Heirat Welten unversöhnlich aufeinander, die mit noch so viel Mühe sich nicht vereinbar sind. Das gleiche gilt für die Beziehung zu ihrem Sohn Peter (als Kind: Finjen Kiefer, als Teenager: Laurids Schürmann), den sie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Stich lässt, um ihn Jahre später als Teenager aufzusuchen.
Das Wiedersehen bringt die Problematik des Films zum Ausdruck: Der Film glaubt tatsächlich, er könne eine mögliche Verbindung der Mutter zu ihrem vollkommen traumatisierten Sohn mit einem Satz beschreiben, der allerdings nur unfreiwillig komisch rüberkommt.

Wild wie das Meer. Originaltitel: La passagère (Frankreich 2022, Start 21.09.2023)
Regie und Buch:  Héloïse Pelloquet
Kurzbesprechung von Franz Witsch
Hamburg, 20.09.2023
Die 45jährige Fischerin Chiara (Cécile de France) beginnt eine sexuelle Beziehung mit dem neuen mehr als 25 Jahre jüngeren Lehrling Maxence (Félix Lefebvre) und löst dadurch massive Konflikte im kleinen provinziellen Fischerdorf aus, das auf einer kleinen Inseln an der französischen Atlantikküste angesiedelt ist. Besonders der etwas einfältige Toni (Jean-Pierre Couton), ein alter Freund des Ehemannes Antoine (Grégoire Monsaingeon), der von der Affäre Wind bekommen hat, macht Chiara Vorhaltungen, um nicht zu sagen ihr Leben zur Hölle. Auch weiß von der Liebesbeziehung bald das ganze Dorf. Dort kennt jeder jeden und die Uhren ticken etwas anders, nämlich  bieder und brutal: Man ist nicht in der Lage, private Konflikte verständigungsorientiert, mithin beziehungsschonend zu kommunizieren. Dass es auch anders geht, zeigen die Helden des Films - Chiara, Antoine und nicht zuletzt auch Maxence - zum Ende hin auf berührende Weise.

FEMINISM WTF (Österreich 2023, Start 07.09.2023)
Regie und Buch: Katharina Mückstein
Kurzbesprechung von Franz Witsch
Hamburg, 06.09.2023
FEMINISM WTF rezipiert und deutet die Geschichte der Frauen-Emanzipation in Verbindung mit der Genderbewegung extrem bieder: Es kommen Stimmen zu Wort, die kritische Distanz zum Thema und damit generell zum Begriff der Emanzipation vermissen lassen, und zwar im Hinblick darauf, was aus den verschiedenen Emanzipationsbewegungen bis heute geworden ist; nichts Gutes: sie haben unter anderem Figuren wie Baerbock oder Claudia Roth hervorgebracht. Kein Problem, ist man sich einig, wenngleich es natürlich noch viel zu tun gibt.

Die Linie (Belgien, Frankreich, Schweiz 2022, Start 18.05.2023)
Regie: Ursula Meier
Drehbuch: Stéphanie Blanchoud, Ursula Meier, Antoine Jaccoud
Besprechung von Franz Witsch
Hamburg, 30.03.2023

In der Musiker-Familie um die 55-jährige Mutter Christina (Valeria Bruni Tedeschi) hängt gleich zu Beginn des Films der Haussegen schief. Vor allem die älteste Tochter Margaret (Stéphanie Blanchoud) hat ihre Gefühle borderlinegestört nicht unter Kontrolle. Gleich zu Beginn des Films prügelt sie ihre Mutter gnadenlos zusammen, die schließlich mit ihrem Kopf auf die Tastatur des Klavierflügels knallt. Die Folge ist ein Hörschaden, der ihr beim Klavierspielen zu schaffen macht.

Zuvor schon ist sie als Konzertpianistin gescheitert, wegen Margaret, sagt sie; nun kann sie ihretwegen den Beruf als Klavierlehrerin nicht mehr weiter ausüben. Alles nur wegen ihrer brutal-cholerischen Tochter, die sich nach dieser Prügelei per Gerichtsentscheid nur noch auf nicht weniger als 100 Meter der Wohnung ihrer Familie nähern darf.

Ihre jüngere Schwester Marion (Elli Spagnolo) malt zu diesem Zweck eine blaue Linie um die Wohnung herum, an einer viel befahrenen Straße, an der sie sich dann mit ihrer großen Schwester trifft, um bei und mit ihr ihren arg religiös motivierten Gesang zu verbessern. Über den Glauben an Gott versucht sie die bösen Aufgeregtheiten in ihrer Familie innerlich zu besänftigen sowie für sich ein liebevolles Verhältnis zu ihrer brutalen Schwester zu bewahren; extrem grenzwertig, zum Ausdruck gebracht durch “Die Linie”: bis hierhin und nicht weiter; und das geschlagene drei Monate.

Die Pointe des Films besteht darin, dass es dem Film gelingt, in sich stimmig und sehr anrührend eine besondere Form von Familienleben zu zeichnen, ohne das Familienleben klischeehaft zu überhöhen. Es zeichnet sich dadurch aus, dass Konflikte zwar einerseits extrem aufgeregt und spannungsgeladen ausgetragen werden. Andrerseits kommen die Familienmitglieder wie selbstverständlich nicht voneinander los. In dieser Selbstverständlichkeit “normalisieren” sich psychische Gestörtheiten, sodass sie sich
lebbar und erlebbar einer Diskriminierung entziehen.

Am Ende des Films gibt es so etwas wie eine Annäherung sogar zwischen Mutter und ihrer ältesten Tochter
eine Art unaufgeregter Showdown, der sich in Worte nicht fassen lässt, den man im Kino erlebt haben muss, um zu  glauben, dass es so etwas Schönes gibt.
 

Manta Manta zwoter Teil (BRD 2023, Start 30.03.2023)
Regie,
Co-Produzent und Hauptrolle: Til Schweiger
Besprechung von Franz Witsch
Hamburg, 28.03.2023

Lässt man die 125 Minuten von “Manta Manta” Revue passieren, fragt man sich, ob Til Schweiger weiß, was er während seiner Arbeit macht, oder gemacht hat, nachdem er sich den Film möglicherweise in seiner Gänze angeschaut hat.

Vermutlich begreift er nicht, dass es an psychischer Folter grenzt, zumindest sehr viel Sitzfleisch erfordert, sich seinen Film anzuschauen, in dem ein Gag den nächsten jagd und dabei dem Zuschauer nicht die geringste Atempause gönnt, unterbrochen nur durch Beziehungsrührseligkeiten, die das über weite Strecken nervenaufreibende Gagfeuerwerk freilich nicht wirklich unterbrechen, weil Til Schweiger rührselige Momente allzu ernst inszeniert, vielleicht dass er in und mit ihnen Autobiografisches
den liebesfähigen Til, der seine Familie liebt einfließen lässt, weit entfernt, große Gefühle oder Selbstüberhöhungen, ironisch zu brechen.

Schweiger hält sich halt für einen begnadeten Schauspieler, Regisseur und (Co-) Produzenten in einem, ohne Distanz zu dem, was er macht. Auch die Handlung, wenn man von einer solchen denn sprechen will, ist zusammen mit den Gags an keiner Stelle ironisch gebrochen. Das funktioniert nur eingeschränkt in einer Gemengelage allzu geschmackloser Gags, die entweder nicht witzig oder lediglich unfreiwillig komisch sind.

Die berühmte romantische Ironie kommt hier nicht zum Tragen
namentlich die eines Friedrich Schlegels um 1800 herum. Sie versetzten romantische Literaten oder Philosophen, die sich der romantischen Bewegung verpflichtet fühlten, in die Lage, ihre Kunstwerke kritisch zu reflektieren. Auch wenn Schlegel, angelehnt an Fichte, glaubte, jene kritische Reflexion in und aus sich selbst heraus zu meistern (transzendieren), ohne recht zu gewahren, dass jene Entwicklung durch Kritik von außen angestoßen werden muss, um den kritisierten Autor wirksam und nicht nur eingebildet vor Selbstüberhöhung zu schützen, gegen die Schlegel ab 1800 in wachsendem Maße durchaus nicht gefeit war, auch wenn er den Begriff der romantischen Ironie entscheidet geprägt hat.

Kritik von außen würde einen Filmemacher entscheidend in die Lage versetzen, sein Verhältnis zu dem, was er macht oder gemacht hat, zu reflektieren. Und das passiert eben nicht nachhaltig, wenn man sich der Kritik nicht aussetzt. Til Schweiger hat hier seine Probleme. Das zeigt er immer wieder, wenn er es ablehnt, seine Filme der Kritik durch die Presse auszusetzen, bevor sie in die Kinos kommen.

Nun muss er Kritik akzeptieren. Das verlangt der Constantin-Verleih, der fortan Schweigers Film vertreibt, nachdem Warner Brothers sich vom Verlustbringer Schweiger getrennt hat. Für den Constantin Verleih ist es selbstverständlich, dass seine Filme, bevor sie in den Kinos anlaufen, sich in Pressevorführungen öffentlicher Kritik stellen. Für Til Schweiger brechen harte Zeiten an.

The Son (Frankreich 2023, Start 26.01.2023)
Regie: Florian Zeller
Besprechung von Franz Witsch
Hamburg, 12.01.2023
Einsehbar als ==> PDF-Datei
oder auf Scharf-Links.de siehe ==> hier.

Der siebzehnjährige Nickolas (Zen McGrath) leidet unter Depressionen, mit denen er sich in der “normalen” Welt seiner geschiedenen Eltern Peter (Hugh Jackman) und Kate (Laura Dern) nicht mehr zurechtfindet. Beide raufen sie sich aufopferungsvoll zusammen, um ihren Sohn zu helfen und werden dabei auch von Peters neuer Freundin unterstützt.

Vergeblich. Nickolas Krankheit nimmt  immer größere Ausmaße an, ohne dass seine Eltern helfen können. Sie merken bis zum Schluss nicht, dass sie mit Nicholas Krankheit überfordert sind, auch weil sie nach Erklärungen suchen, insbesondere Peter, die es freilich ohne weiteres  in seiner Welt des beruflichen Erfolgs nicht gibt. Dort gibt es auf einer opak-undurchdringlichen Oberfläche für jedes Problem eine Lösung, die keine Frage mehr offen lässt.

Das macht die berufliche Brillanz von Peter aus. Auf die lässt er nichts kommen. Auf dieser Oberfläche klebt er, sie ist seine zweite Haut, durch die weder was hinaus- noch hineindringt. Um nicht zu sagen: an dieser Stelle ist er vollkommen “zu”, auch wenn er sich nach außen locker, überdies zutiefst liebesfähig gibt. Wahrhaftig, weil seine Familienangehörigen mit ihm zusammen auf dieser Oberfläche kleben, von seinem Erfolg sich ernährt fühlen.

Eben bis auf  “The Sohn”. Er vermag sich auf dieser opaken Oberfläche von Ursache und Wirkung, die Peter freilich ungebremst in die Welt seiner Familie projiziert, nicht zu halten. Dabei ist Peter ständig versucht, seinen Sohn in diese seine Welt des Erfolgs hineinzuziehen, wogegen dieser sich
zu Recht? instinktiv wehrt. Ohne dass der Zuschauer gewahrt, dass Nickolas sich aus seiner Perspektive heraus zu Recht wehren könnte, weil diese eben nicht nur in seiner Krankheit aufgeht, und wir uns möglicherweise deshalb alle gegen die Welt des Erfolgs wehren müssten.

In der Welt des Erfolgs finden sich keine Erklärungen für Nickolas Depressionen, weil man dort schon immer alles weiß, noch bevor man auf etwas gestoßen ist, mithin sich alles, einschließlich der Mensch,  durchrationalisiert sieht, was nicht niet- und nagelfest ist. Als müsse die ganze Welt in der Welt des Erfolgs aufgehen können, in der alles wunderbar alternativlos transparent, mithin glatt gebügelt ist, sodass Erklärungen apodiktisch aus dem Impuls heraus ausgesprochen werden, um Widerrede gar nicht erst aufkommen zu lassen.

In einer solchen Welt leben wir. Und genau diese Welt ist falsch. Sie gibt es nur auf eine immer brutalere zerstörerische Weise, gegen uns alle gerichtet, selbst gegen Peter, der am Ende des Films den Eindruck erweckt, als komme ausgerechnet er, der Erfolgsmensch, in genau dieser seiner eigenen Welt nicht mehr zurecht. Hier fällt mir einmal mehr Adornos legendärer Satz ein: das Ganze sei das Falsche. Und es gebe kein richtiges Leben im Falschen.

Könnte es sein, dass Nickolas, ohne es zu ahnen, sich genau dagegen wehrt? Im Falschen leben zu müssen? Möglicherweise gibt es also durchaus Erklärungen, solche, die einer Verarbeitung zugänglich wären, freilich nicht kompatibel mit der Welt des Erfolgs, die ihrerseits nur ihre Erklärungen duldet.

Das wird erst ab der zweiten Hälfte des Films ein wenig deutlicher. Bis dahin mag es für den Zuschauer so scheinen, als wüssten die Filmemacher mit Nickolas Erkrankung nicht viel anzufangen. Genau das macht aber die Qualität des Films aus. Die Filmemacher inszenieren den Film auf Augenhöhe mit seinen Figuren und geben sich dabei nicht schlauer als diese selbst oder die Zuschauer. Sie alle wachsen langsam aber sicher bis zum Schluss in die psychischen Gebrechen von Nickolas hinein, freilich, und das ist ein Wermutstropfen, aus der Perspektive eines Beobachters, der jene Gebrechen lediglich von oben herab wahrnimmt, ohne sich und seine (eigene) Welt
sein Innenleben einzubeziehen, um eigene Verantwortlichkeiten hinreichend markieren zu können.

So gesehen könnte man z.B. auf den Gedanken kommen, dass die Figuren ohne Distanz leben zu dem, was sie den ganzen Tag machen. Der Vater arbeit ohne Distanz zu seiner Welt des beruflichen Erfolgs, mit der er sein Familienleben liebevoll terrorisiert; während  die Familienmitglieder nicht weniger ohne Distanz zueinander leben (wollen). Wird eine solche offener spürbar, reagieren sie cholerisch (der Vater), allzu fürsorglich (die Mutter) oder immer extremer depressiv (The Son).

Da reicht es auch nicht, dass die Freundin von Peter in der Lage ist, etwas mehr Distanz aufzubringen, eben weil der Sohn etwas fremder auf sie wirkt, sie allerdings auch den Eindruck macht, dass sie in der Lage ist, das Fremde in sich, ihrem Leben, zu assimilieren. Eine äußerst gesunde Einstellung, die andere Familienmitglieder geradezu extremistisch vermissen lassen.

Derart vermag Peter nicht konstruktiv zu reagieren; z.B. indem er auf einen Vorschlag seiner Freundin eingeht, übers Wochenende ans Meer zu fahren. Das will er nicht über sein Herz bringen, während sein Sohn zur selben Zeit in der Psychiatrie aggressiv vor sich hindämmert.

Peter ahnt nicht, dass er mit seinem Bedürfnis nach Nähe zu seinem Sohn alles hoffnungslos schlimmer macht. Seine Freundin vermag ihn nicht zu überzeugen, weil sie ihm nicht vermitteln kann, dass sie Peter nicht nur aus egoistischen Motiven zwei Tage für sich allein haben möchte. Peter denkt nach, zieht flugs die falschen Schlussfolgerungen aus ihren Wünschen und bleibt, nah am Wasser gebaut, ganz und gar in seiner Rolle als Vater aufgehend, (immer zu) nah an seinem Sohn dran. Seine Exfrau weiß auch nicht mehr und glaubt, mehr Liebe und Zuneigung würde alles besser machen. Sie irren beide komplett.

Selbst der Vater irrt noch zum Ende des Films, als er  tränennass wimmert, er habe mit Nickolas alles falsch gemacht. Hat er nicht, zumindest nicht aus seiner Perspektive des beruflichen Erfolgs heraus. Dort hat er einen einzigen Fehler gemacht: als er  nämlich zusammen mit seiner überfürsorglichen Ex-Frau den gemeinsamen Sohn aus den Klauen der Psychiatrie herausgeholt hat.

Babylon im Rausch der Sinne (USA 2022, Start 19.01.2023)
Buch und Regie: Damien Chazelle
Kurzbesprechung von Franz Witsch
Hamburg, 11.01.2023

Babylon reflektiert die Zeit des Stummfilms ab 1926 im Übergang zum Tonfilm und darüber hinaus, indem er die psychischen Probleme damaliger Stummfilm-Schauspieler ins Zentrum der Betrachtung rückt. Sie erleben die Zeit kurz vor dem Ende des Stummfilms wie im Rausch, werden bald danach aber von der Realität (nicht nur des Tonfilms) brutal eingeholt.

Superstar Jack Conrad (Brat Pitt) scheitert in der Welt des Tonfilms. Die aufstrebende Schauspielerin Nellie LaRoy (Margot Robbie) findet sich im Tonfilm besser zurecht, scheitert aber dennoch, indem sie sich finanziell zugrunderichtet, jedenfalls im normalen Leben nicht ankommt.

Die meisten Stummfilm-Schauspieler überlebten den Übergang zur Welt des Tonfilms nicht, oder sagen wir es so: sie erlebten die Welt, in der der Stumm- und Tonfilm stattfand, nicht real, wie sie “wirklich” ist; vielmehr nur im Kopf, wie sie sie sehen wollten, eben weil sie sie nur unzureichend durchschauten, sodass sie sich über ihre Köpfe hinweg entwickelte. Nur wenige Stars ist es gelungen, die Welt, in der sie wirkten, kritisch zu reflektieren; z.B. James McKay (Tobey Maguire), der im Film an Charlie Chaplin angelehnt ist.

Chaplin zeichnete sich Zeit seines Lebens durch Distanz zu dem, was er machte, aus. Während der “stinknormale” Superstar vom Erfolg ganz besoffen sich unfähig zeigte, seine gesellschaftliche Rolle über den Tellerrand der Unterhaltung hinaus zu reflektieren, sich gewissermaßen als Homo Politicus zu sehen, was nur gelingt, wenn er sich, und damit sein Wirken in der Welt des Films, kritisch reflektiert. Tun die meisten Filmemacher bis heute nicht.

Ithaka (Kanada 2021, Dokumentarfilm zu Julian Assange)
Buch und Regie: Ben Lawrence
Besprechung von Craig Murray
Übersetzt und eingeleitet von Daniela Lobmueh
Hamburg, 18.08.2022

US-Justiz und Londoner Regierung verletzen die Menschenrechte von Julian Assange, Leitmedien schweigen dazu, Craig Murray berichtet darüber in seinem Tagebuch.
(...) Weiterlesen ==> hier. Oder auf Englisch ==> hier.

Elementary: Mord Ex Machina (USA 2012-2019, Erstausstrahlung/CBS 27.09.2012)
Regie: Guy Ferland
Besprechung von Hannes Sies
Hamburg, 23.05.2022

Eine US-Krimiserie im Nachmittagsprogramm des Billigsenders “Kabel 1” spricht ehrlicher über Ursachen des Ukrainekriegs als die ARD-Nachrichtenredaktion: Kiew als
US-Marionette und die US-Rüstungsindustrie als Nutznießer ukrainischer Polit-Intrigen.
(...) Weiterlesen ==> hier.

The Climb (USA 2019, Start 20.08.2020)
Regie: Michael Angelo Covino
Stage Mother (Kanada 2020, Start 20.08.2020)
Regie: Thom Fitzgerald
Kurzbesprechung von Franz Witsch
Hamburg, 06.08.2020
The Climb ist eine kurzweilig unterhaltende Komödie um zwei Männer, die sich seit Kindertagen kennen, eigentlich sehr nahestehen,  bis der eine,  Mike (Michael Angelo Covino), mit der Frau schläft, die der andere, Kyle (Kyle Marvin), heiraten möchte. Das führt zu familiären Verwicklungen, die, wie es einem regressiven Zeitgeist entspricht, zu spätpubertären Dialogen motivieren; gerade deshalb unterhaltsam, weitgehend klischeefrei inszeniert.
Das trifft auf Stage Mother leider viel weniger zu. Hier lösen sich Beziehungskonflikte in Rührseligkeiten auf, vor allem bei Figuren, die dazulernen (wollen) und es deshalb "verdienen", dass sie große Gefühle ausleben.

 

Der flüssige Spiegel (Frankreich 2019, Start 03.09.2020)
Regie: Stéfane Batut
Besprechung von Franz Witsch
Hamburg, 02.07.2020
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Es gibt Filme, die eignen sich nicht fürs Fernsehen und im Kino finden sie nur wenig Resonanz, wenn sie sich weitgehend einem einfachen Interpretations-Schema entziehen. Doch was macht diesen Film so schwer zugänglich? Vielleicht dass er zwei Welten beschreibt, die einander kaum oder nur sporadisch berühren. So der Traum, der frei nach Freud verschlüsselte Wunschvorstellungen oder Ängste repräsentieren mag, etwa eine verflossene Liebe, die im Traum eine Rekonstruktion erfährt, die indes in der Realität nicht das halten würde, was sie im Traum verspricht. Real mag es eine aktuelle Liebe geben, die den Praxistest bislang bestanden hat, diesen freilich Tag für Tag aufs Neue bestehen muss.

So mag es den beiden Helden, Juste (Thimotée Robard) und Agathe (Judith Chemla) ergehen, die sich im Film unwirklich, wie nicht von dieser Welt, begegnen, eigentlich wiederbegegnen. Ihre Liebe hat es vor Jahren schon mal gegeben bis sie dann von einem Tag zum anderen verschwand, weil Juste verunglückt ist, um nunmehr als Geist wieder aufzuerstehen, von der wirklichen Agathe erkannt, weil sie in ihm ihre alte Liebe wiederzuerkennen glaubt.

Es gibt unterschiedliche Arten oder Ebenen eines Zugangs zum Film und seinen Figuren. Eine sei hier formuliert: Man könnte vielleicht ganz generell sagen, dass Liebende nicht zueinander finden, weil einer den anderen liebt, sondern weil zunächst jeder vornehmlich sich selbst liebt und dieses Gefühl in den anderen projiziert in der irrwitzigen Erwartung, der Andere möge das in ihn projizierte Gefühl nicht verletzen.

Verletzungen passieren  vielleicht ganz unvermeidlich, sobald nach einiger Zeit zwei Liebende sich als reale Personen (wie sie tatsächlich und nicht nur in der Vorstellung sind) begegnen. Dann bleiben Enttäuschungen, in denen der eine den Anderen als fremd erlebt, nicht aus und zwei Welten, Parallelwelten ohne Verbindung zueinander, stoßen abstoßend aufeinander; eine Verbindung kann im Innenleben der Liebenden ausgebildet werden, wenn sie denn in der Lage sind oder sich nicht zu sehr scheuen, das Fremde, das beide durch den jeweils Anderen in sich erleben, dem eigenen Innenleben zu assimilieren, ein ,mentaler Vorgang, der im Innenleben dann eine reale und nicht nur eingebildete Verbindung im Sinne einer bloßen Wunschvorstellung ausbildet.

Im Film stoßen zwei Liebende aufeinander und entwickeln dabei jeweils ambivalente Gefühlen füreinander. Dabei bilden sie jeweils eine innere Welt aus, die sich aus registrierbaren Versatzstücken zusammensetzt, zwischen denen sich dunkle Abgründe auftun, in denen sie sich und den Anderen nicht durchgehend als etwas, das existiert,  erleben, wo Agathe Justin mal als  Geist erlebt, der sich vor ihren Augen auflöst oder nicht auflöst, ohne dass sie ihn wahrnimmt. Aus diesen Abgründen des Nichts erwachen die Liebenden immer wieder, sobald sie aufeinander oder nur auf etwas außerhalb ihrer selbst stoßen, das zu reflektieren sie nicht umhin kommen, bis alles einmal mehr im nächsten Abgrund entschwindet.

Wohin man blickt; überall kleine Tode, Bewusstlosigkeiten, in denen alles Fühlen und Denken aufhört. Als brauche der Geist zwischenzeitlich Erholung, vermag er sich nicht endlos oder ohne wiederkehrende Unterbrechungen auf was auch immer zu beziehen.

 

Master Cheng in Pohjanjoki (Finnland 2020, Start: 30.07.2020)
Regie: Mika Kaurismäki
Kurzbesprechung von Franz Witsch
Hamburg, 01.07.2020
Der aus China stammende Koch Cheng (Pak Hon Chu) reist mit seinem sechsjährigen Smartphone-süchtigen Sohn Nunjo (Lucas Hsuan) durch Finnland, um etwas zu suchen, vielleicht einen Freund, den er nicht findet, und landet in einer Bar, um dort etwas anderes zu finden: die Liebe zu Bar-Besitzerin Sirkka (Anna-Maija Tuokko), der er seine chinesischen Kochkünste anbietet. Die machen den Ort schließlich zum illustren Anziehungspunkt. Und dann wächst mit Hilfe der Ortsbewohner über nationale Grenzen hinweg zusammen, was zusammengehört. Ein für Kinder bestens geeigneter Film.

Harriet – Der Weg in die Freiheit (USA 2019, Start: 09.07.2020)
Regie: Kasi Lemmons
Kurzbesprechung von Franz Witsch
Hamburg, 01.07.2020
Der Weg in die Freiheit zeichnet die Lebensgeschichte der US-Südstaaten-Sklavin Minty (Cynthia Erivo) nach. Er beginnt mit ihrer Flucht in den Norden, der die Sklaverei nicht akzeptiert. Dort macht Minty es sich unter ihrem neuen Namen Harriet Tubmann zur Aufgabe, weitere Sklaven aus dem Süden heraus in den Norden zu entführen. Zum Ende des Films gipfelt ihre Geschichte im Amerikanischen Bürgerkrieg (1861-1865), dem sie sich als Soldat für die Freiheit anschließt. Die Inszenierung ist altbacken pathetisch aufgeladen. Am Ende sieht sich der Krieg – im Sinne einer Lebensform – durch den Weg in die Freiheit aufgewertet, passend für die heutige Zeit, die ihre Kriege sucht und findet, um nach innen von ihren sozial-ökonomischen Problemen abzulenken.

Exil (BRD, Belgien, Kosovo 2020, Start: 20.06.2020)
Regie: Visar Morina
Besprechung von Franz Witsch
Hamburg, 13.02.2020
Die Besprechung ist integriert in einem umfangreicheren Text, im Bürgerbrief BB173.1 unter dem folgenden Link:
http://film-und-politik.de/Politik/BB-bis200.pdf (S. 192ff)

Der wunderbare Mr. Rogers (USA 2020, Start: 20.04.2020)
Regie: Marielle Heller
Besprechung von Franz Witsch
Hamburg, 04.02.2020
Der Film ist kommentiert in einem umfangreicheren Text, im Bürgerbrief BB173.1 unter dem folgenden Link:
http://film-und-politik.de/Politik/BB-bis200.pdf (S. 192f)

Wer wir sind und wer wir waren (GB 2019, Start: 21.05.2020)
Regie: William Nicholson
Besprechung von Franz Witsch
Hamburg, 04.02.2020
Der Film ist kommentiert in einem umfangreicheren Text, im Bürgerbrief BB173.1 unter dem folgenden Link:
http://film-und-politik.de/Politik/BB-bis200.pdf (S. 192f)

The Secret - Das Geheimnis (USA 2020, Start: 20.04.2020)
Originaltitel: The Secret: Dare to Dream
Regie: Andy Tennant
Besprechung von Franz Witsch
Hamburg, 16.02.2020
Die Besprechung ist integriert in einem umfangreicheren Text, im Bürgerbrief BB172.2 unter dem folgenden Link:
http://film-und-politik.de/Politik/BB-bis200.pdf (S. 185)

 

Lassie: eine Abenteuerliche Reise (BRD  2020, Start: 20.02.2020)
Regie: Hanno Olderdissen
Besprechung von Becky Tan
Hamburg, 16.02.2020

Eric Knight wrote a short story about Lassie the collie dog in 1938. His book Lassie Come Home was published in 1940 and the first film appeared in 1943. Since then Lassie has become a permanent part of our culture starring in over 20 films and tv series. Now we have a new Lassie Come Home, which closely follows the original script of 1943.

Florian (Nico Marischka) and his parents Andreas and Sandra have moved to a new apartment where dogs are forbidden, according to their annoying neighbor, Mrs. Müller. Florian’s parents already have enough problems: job loss, unfamiliar neighborhood, and a new baby on the way. Boarding out Lassie to Count von Sprengel (Matthias Habich) in his lordly manor near the German North Sea, seems to be the perfect solution, especially since von Sprengel’s granddaughter Priscilla (Bella Bading) is eager to care for a dog.

Priscilla has much to learn about dogs, and, also about her grandfather: he is selling his manor due to bankruptcy; her father Sebastian is on business in Singapore; her mother died in an accident. To quote the film: “Dogs are always a comfort during difficult times.”

As expected, Lassie escapes. While the two families, are involved in intensive searches, we follow Lassie’s adventures on his way to Florian in southern Bavaria, as he runs through the beautiful landscape, meeting up with various animals and humans, some helpful, some dangerous.

This is an excellent opportunity to let Lassie into your life. It takes a while to sort out the various characters and their relationships to each other, but the actors are wonderful, especially Nico Marischka as Florian and Justus von Dohnányi in a small role as the “chewing gum stuck on the sole of the shoe,” i.e., Gerhardt, the faithful butler of Count von Sprengel. Perhaps there are no real surprises; we know that he will make it across the full length of Germany.

Personally, Lassie has always been a permanent part of MY life. I grew up with the original book, as well as several collie dogs all named - you guessed it: Lassie. More recently, my friend’s dog, Rügen, escaped from an unfamiliar neighborhood in Hamburg-Niendorf to turn up 16 hours later at his own front door. Dogs are amazing, including the dogs who played the role of Lassie in this family film for anyone six years and older.

 

Parasite (Südkorea  2018, Start: 17.10.2019)
Regie: Bong Joon-ho
Besprechung von Katja Naber
Hamburg, 17.01.2020
Der Cannes-Gewinner dieses 2019 präsentiert die Thematik von Hütten und Palästen, umgemünzt in “Keller versus Villa”, einmal in ganz anderem Gewand und Gepräge: Familie Kim lebt im Tiefparterre unterhalb der Straßenebene, Familie Park in einer glamourösen Architektenvilla. Ihre Wege kreuzen sich als Ki-woo für die junge Park-Tochter" aushilfsweise als Nachhilfelehrer engagiert wird. Ki-jeong die schlaue Kim-tochter kreiert mittels kreativer Copy & Paste-Technik schnell ein Uni-Diplom und Stück für Stück steigen die gesamten Mitglieder der Kim-Familie bei den Parks trickreich als unentbehrliches und gutbezahltes Personal ein und somit auch auf aus ihrem Kellerverlies – Happy End  oder (Klassen-) Kampf – gar bis aufs Messer ?!? Ist es möglich, auf diese Weise dem Keller-Geruch zu entfliehen?
Unfair wäre es, zu viel zu verraten und knapp mit verrückt-überraschender Action und Story-Entwicklung ist diese asiatische Auf/Abstiegs/Aufstiegs (?)-Geschichte wahrlich nicht bestückt. Ein turbulent-buntes Melodrama mit nachdenklichem Nachhall.

Last Christmas (GB  2019, Start: 14.11.2019)
Regie: Paul Feig
Besprechung von Katja Naber
Hamburg, 17.01.2020
Schon 2013 hat George Michael einem Film mit diesem Titel zugestimmt. Nach seinem Tode tauchten weitere unpublizierte Songs auf und fanden neben einem guten Dutzend G. M. & Wham-Klassikern in diesem Herz-Schmerz-Film, der auch Großstadt-Obdachlosigkeit behandelt, ein „Obdach“.
Kurz vor Heiligabend ist auch Großstadtgöre Kate auf der Suche nach einem solchen Obdach, künstlerisch taumelnd unterwegs, von Audition zu Audition und abends von Bett zu Bett. Heim will sie nicht. Seit einem Nahtod-Drama "Last Christmas" ist ihr Herz aus dem Takt und ihr Leben aus den Fugen. Die Weihnachtskitschhasserin muss zusätzlich um ihren Job – ausgerechnet als Weihnachts-Elfe – bangen. Mit dem Herzen ist sie auch dort nicht ganz dabei. Tom (goldig: Henry Golding) tritt plötzlich wie eine "Jahresendflügelfigur" in ihr Leben. Kann er ihr Halt und Rettung spenden ?! Oder verfliegt sich die Romanze?
Wahrhaft weihnachtlich – in der Themenwahl jedoch zeitlos – präsentiert sich: allumfassende Love actually – hier jedoch unzynisch als postmodernes Prä-Brexit-Märchen, situiert in einer zauberhaften Camden-Market-City-of-London-Atmosphäre mit in Hochglanzoptik verpackter Ernsthaftigkeit. Bitte im Original goutieren!

 

Spione Undercover – Eine Wilde Verwandlung -  (USA  2019, Start: 25.12.2019)
Regie: Nick Bruno, Troy Quane
Besprechung von Becky Tan
Hamburg, 20.12.2019

Walter Beckett is a small boy who invents gadgets. His mother, a police officer, supports him in his hobby and tells him that she will “always be there for him” and he shouldn’t be upset that his schoolmates call him a “spinner.”

After these first five minutes, we jump forward. Now, Walter is a nerdy, young man, working in the Washington D.C. Office of Security, inventing high-quality technical devices, after having graduated from MIT at age 15. He insists that “glitter” offers exceptional possibilities for the secure capture of spies. Lance Sterling, a professional investigator for this Washington D.C. office, shines in the praise of his constituents after, once again, defeating sinister adversaries. He says, “I work solo.” That is until he comes up against Killian, a gangster who uses his robot hand to direct flying drones. He can also change his facial characteristics to match those of Lance, which causes confusion and false accusations

Lance turns to Walter for advanced technical assistance. Walter suggests a partnership, which Lance rejects – that is, until he drinks the wrong potion by mistake and turns into a pigeon. He’s a very cute pigeon, loved by three other birds. He admits that being a pigeon tops any other possible camouflage, but will require a partnership after all.

So Walter and Lance take off to save the world. Walter continues to apply his talent for invention in time of desperation (at the same time working to turn Lance back into a human being). Lance finds adjusting to his new personality frustrating; he can’t even learn to fly. They travel by ship and plane to a laboratory in the North Sea, then Playa de Carmen in Mexico and then to Venice (where pigeons fill the marketplace).

Contrary to any expectations, this film was a wonderful surprise. The colorful, animated figures, all extremely skinny, except one fat adversary called Kimura, go along full steam for the whole 90 minutes, accompanied by 16 fast-moving songs. There is quick dialog, full of technical terms, definitely beyond my understanding, but not a problem; the goal is to be aware that these are complicated, crime-fighting techniques. I would recommend Spies in Disguise for anyone over eight years old; boys might identify more easily to the plot, although the head of the Office of Security is a tough young lady named Marcy. Naturally, there is a lesson to be learned and it’s all about friendship.

 

Mario Adorf - es hätte schlimmer kommen können -  (BRD  2019, Start: 07.11.2019)
Regie: Dominik Wessely
Besprechung von Becky Tan
Hamburg, 28.10.2019

Mario Adorf is an icon in the theater world. Born in 1930 in Zurich, he grew up with his single mother, who worked as a seamstress, trying to make ends meet, even depositing him in an orphanage for a time. His school years were spent in Mayen, in the Eifel area of the German west-coast bordering on Belgium and Luxemburg. During World War II he attended school, graduating with a high school diploma. He studied acting in Mainz, Zurich, and Munich and began small roles in theater, television and film. Although he had practically no contact with his Italian father (he was an illegitimate child), he worked in Italy and speaks Italian, as well as English.

This documentary follows his career best by showing short trailers of many of his films from 1957 (Nachts wenn der Teufel kam ) to 2014 (Der Letzte Mensch), with many more films in between such as Das Mädchen Rosemarie (1958), Die Blechtrommel (1979), and Die verlorene Ehre der Katharine Blum (1975), as well as several Winnetou films and many films made in Italy where he also resided. Now at age 89, he is seen planning his last tour through Germany (including a stop in Hamburg at the Laeiszhalle on May 28, six months before this film came out).

German viewers will recognize most of the references to his more than 66 films. He talks about how he might have enjoyed being a sculptor, considering that he likes art (visits an art gallery in Florence, Italy) and physical exertion, which explains why he personally performed his own stunts on screen. There is little information about his personal life except a reference to “Monique.” German viewers will have many memories of Adorf, while foreign viewers will learn much about the life of an actor who is still enthusiastic and capable after almost 90 years.

 

Born in Evin (BRD, Österreich 2019, Start: 17.10.2019)
Regie: Maryam Zaree
Besprechung von Becky Tan
Hamburg, 10.10.2019

Forty years ago Iran experienced an upheaval in government and the Shah fled the country. Ayatollah Khomeini assumed control, banning and imprisoning all protestors and political adversaries. Two of these imprisoned protestors were the parents of film director Maram Zaree: her mother Nargess and her father Kasra.

Nargess was in Evin Prison, where Maram was born in 1983. Two years later in 1985 Nargess was released and left Iran for Europe with her young daughter. Kasra was imprisoned for seven years. Perhaps Nargess chose Europe, because she already had a sister in Paris. Nargess, age 20, and Maryam, age two, settle in Frankfurt, where Maryam grows up, completely ignorant of her unusual, early life about which she has no memories. Through her aunt, she becomes somewhat aware of her history, which remains mysterious because her mother never discusses the situation. Although she has contact with her father, her parents did not reunite and her mother remarried.

Now living in Berlin, an adult Maryam began work on this, her first feature film, which held her attention for three years. However, the facts came very slowly to the surface. She attended conferences of women in Hannover and The Hague, as well as a development conference in Sweden. She meets other former prisoners and their children, who were born in the same Evin Prison, They, like her own mother, are reluctant to reveal any details. Even a few words induce deep sadness and tears. She learns that there were six rooms in the prison, with 40-60 people in each room. Her own birth was aided by other prisoners, who tried to keep her quiet.

Maryam Zaree is a successful actress, having appeared in German theater, television series (such as Tatort and 4 Blocks) as well as films, including Germany’s nomination for best non-English-language Oscar Award, Systemspringer, which premiered in cinemas four weeks before Born in Evin will open. This is her first, full-length film as a director. She said, “How could I tell about events for which there are no words?” Yes, those who experienced this period of time and fled the country, remain silent. There are no words. But Maram successfully shares parts of the situation with us viewers.

 

Kursk (Belg, Frankr., Norwegen 2018,  Start: 11.07.2019)
Regie: Thomas Vinterberg
Besprechung von Becky Tan
Hamburg, 07.07.2019

On August 10, 2000, the Russian submarine K-141 Kursk, as part of the Russian Northern Fleet, was practicing maneuvers in the Barents Sea, between Russia and Norway. On the second day a torpedo exploded, causing a fire which led to a second explosion and the submarine sank. There were 118 men on board and 23 were able to barricade themselves against rising water in Section 9.

Under the leadership of Captain Lieutenant Mikhail Avenrin (Matthias Schoenaerts), they discuss rescue plans, including keeping oxygen tanks in full service. They try to communicate with their officers on land, Admiral Gruzinsky (Peter Simonischek) and Admiral Petrenko (Max von Sydow). This includes pounding on the walls of the submarine, a primitive, but useful, sign of life. This goes on for nine days as the Russians debate recuse possibilities. They are not open to suggestions from Commander David Russell (Colin Firth) of the Royal British Navy as well as Norwegian navy officials, although they have the better rescue equipment.

This film follows the book A Time to Die: The Untold Story of the Kursk Tragedy by Robert Moore, which is based on the facts of this catastrophe – or on the facts as author Moore and film director Thomas Vinterberg understood them. The Russians were very secretive: afraid of revealing military loopholes as well as admitting their own incapability and weaknesses.

While the men suffer underwater, we feel for their families who are waiting in their small coastal town for news. There is Tanya Averin (Lea Seydoux) and her neighbors, all with children, all desperate for news, which is not forthcoming. These nine days (in reality three days) are portrayed in suspenseful 117 minutes. If you are unfamiliar with the history of the KURSK, then these minutes become more tense as you await the results, fighting the sensation, that you, too, are drowning, holding your breath, becoming claustrophobic with the men fighting for survival a small, cold space. An interesting film about an historical event, it will hold your attention and send you to research more details after the viewing.

 

Stan & Ollie (UK/Canada/USA 2018,  Start: 10.05.2019)
Regie: Jon S. Baird
Besprechung von Becky Tan
Hamburg, 10.05.2019

British Stan Laurel and American Oliver Hardy began working together as comedians in 1927. Their slapstick talent gained in popularity and everyone knew “Laurel and Hardy,” who were called “Dick und Doof” in Germany. They performed live on stage; they were also one of the few teams to move smoothly from silent movies to talking movies and eventually into television. Their oeuvre totaled 107 films (including silent, talking, short, cameos, and feature films).

Here, Steve Coogan plays Laurel and John C. Reilly (made to look fat) plays Hardy. Director Jon S. Baird begins with their tour through England in 1953, their last main engagement, after which they slowly retired, as Hardy was failing in health. They begin in small theaters, but word travels quickly so that, as they move northwards to Ireland, they are received in larger theaters full of appreciative audiences. Their appearance on stage is accompanied by their trademark music, “The Cuckoo Song.” While they are on the road, we watch them discuss their performances (created by Laurel), argue over past and present grudges and disappointments, and change into a variety of costumes (selected from 2000 pieces from three generations, as well as 20 different hats). They do agree that “All we had was each other, just the way we wanted it.”  Director Baird draws on flashbacks to inform about their careers up to this point. We see original film material from their famous performance in Way out West (Dick und Doof im Wilden Westen). On stage Coogan and Reilly repeat the famous dance to the song “At the Ball, That’s all,” also from Way out West, all quite familiar to their loyal fans, as are their trademark bowler hats.

The film is excellent in educating viewers, both old and young in a theme they might have forgotten or may never have experienced. It also shows a type of comedy typical of the 1930s and ‘40s. It would be interesting to test whether its popularity would carry over to today as it did then. In those days viewers smoked in cinemas during the showing. It’s also interesting to see the influence welded by their wives: Lucille (Shirley Henderson), third wife of Hardy, and Ida, (Nina Arianda) wife of Laurel. Based on the book Laurel & Hardy – the British Tours by A.J. Marriot, we can thank Jon S. Baird, as well as the talented actors for fixating Laurel and Hardy back into today’s culture.

Birds of Passage (Kolumbien, Dänemark, Mexiko 2018,  Kinostart: 04.04.2019)
Regie: Cristina Gallego und Ciro Guerra
Besprechung von Franz Witsch
Hamburg, 10.03.2019

Richtig ist, dass menschliches Leben ohne Anpassungs- und Kontrollzwänge nicht möglich ist, weder in vorkapitalistischen noch nachkapitalistischen Formationen. Die kapitalistische Formation zeichnet sich nun besonders dadurch aus, dass sie soziale Anpassungsprozesse massiv behindert, wenn nicht komplett zerstört, und das noch bevor und während Menschen sich um Integration bemühen, und dadurch aggressiv-archaische Momente im Innenleben des Subjekts freigelegt werden, die dann einer sozialen Kontrolle beim besten Willen nicht mehr zugänglich sind. Das, was wir gemeinhin für “Kultur” halten, reflektiert diesen Prozess, indem sie ihn leider nur weitgehend bejammert, geschweige denn, dass sie diesen Prozess aufzuhalten vermag.
(...)
Der Film “Birds of Passage” (BoP) weiß davon buchstäblich Lieder (der Wehklage) zu singen. (...)
Weiterlesen unter dem Link:
http://film-und-politik.de/Politik/K14.pdf (S. 119)

 

Capernaum - Stadt der Hoffnung (Libanon, Frankr., USA 2018,  Kinostart: 17.01.2019)
Regie: Nadine Labaki
Besprechung von Franz Witsch
Hamburg, 10.03.2019

Merkwürdig: Menschen an den Schalthebeln der Macht oder der veröffentlichten Meinung registrieren Verletzungen und den Leidensdruck, den sie verursachen, durchaus. Allerdings verschlüsselt (vgl. T06, S. 62ff). Mehr noch, sie leiden mit, entwickeln gar intensive (Mit-) Gefühle für leidende Menschen, z.B. Zeit Online-Journalistin Anke Sterneborg in ihrer Besprechung zum Film “Capernaum” (...)
Weiterlesen unter dem Link:
http://film-und-politik.de/Politik/K14.pdf (
S. 121)

 

Brecht (BRD 2018, Start im Fernsehen auf Arte am 22.03.2019)
Regie: Heinrich Breloer
Besprechung von Franz Witsch
Hamburg, 13.02.2019

(...) Das trifft nicht zuletzt auf den neuen auf der diesjährigen Berlinale vorgestellten Film “Brecht” (von Heinrich Breloer) zu, der sich vielleicht so deuten lässt, dass er den universalen Sachverhalt der Nötigung, das Negativ von Emanzipation, durch die Person “Brecht” (1898-1956) hindurch transportiert (...)
Weiterlesen unter dem Link
http://film-und-politik.de/Politik/K14.pdf (S. 107)

 

Robin Hood (BRD 2018, Kinostart 10.01.2019)
Regie: Otto Bathurst
Produziert: u.a. von Leonardo DiCaprio
Besprechung von Barbara Ottrand
Hamburg, 09.01.2019

Die neu aufgelegte Heldenballade der Abenteuer von Robin Hood als Actionfilm wird der ursprünglichen achthundertjährigen Legende nicht gerecht, und zwar deshalb, weil sie aus der Geschichte ein ausgesprochen lächerliches Revolutionsepos „Arm gegen Reich“ macht. Das geschieht ohne jede Ironie. Schließlich hat der Film nicht die eigentliche Legende zum Thema, die sich bekanntlich im Wald abspielte, sondern möchte zeigen, wie es zu dem Leben im Wald kam.

Im Vorfeld zur Waldlegende sieht sich Robin zunächst als ganz normales Mitglied der Gesellschaft von bösen Mächten in einen Kreuzzug getrieben. Hier wird der Zuschauer schon mal auf die üblichen brutalen Kriegsmetzeleien, untermalt mit entsprechender jugendaffiner Musik, eingestimmt. Und hier reift Robin, der jugendliche Held, zum Revolutionsführer in der Heimat heran. Er zettelt eine Revolution in der Stadt an, die später im Wald seine Fortsetzung findet.

Doch schon in der Stadt stiehlt er den Reichen, um es den Armen zu geben, getaucht in Gewaltexzessen, die sich durch das gute Ziel einer besseren Gesellschaft verherrlicht sehen. Damit möchte man, eine Katastrophe, der jugendlichen Zielgruppe gefallen.

Wenn man den Mythos um Robin Hood auf die heutige Zeit übertragen möchte, was sich, ob nun im guten oder schlechten Sinne, nicht vermeiden lässt, müsste man politisch überzeugender die Änderung der Gesellschaft zum Wohle der Allgemeinheit im Blick haben. Das gelingt nicht im guten Sinne, wenn der Film seinen Schwerpunkt auf die Darstellung von Kriegsmetzeleien legt, hin und wieder unterbrochen von verunglückten Liebensszenen, um Gewaltexzesse – nicht zuletzt auch in unserer Welt – in ein humanes Licht zu tauchen.

Es gäbe aktuell politisch sicher einiges anzuprangern. Hier wäre Widerstand nötig. Er muss aber „richtig“ transportiert werden. Jedenfalls nicht so, als sei die Gewalt der Vater einer jeden besseren Gesellschaft.

 

Was uns nicht umbringt (BRD 2018, Kinostart 15.11.2018)
Regie: Sandra Nettelbeck
Besprechung
von Becky Tan
Hamburg, 15.11.2018

“Whatever doesn’t kill us” is a literal translation of the title of this “ensemble film.” And what an ensemble it is. Psychotherapist Max and his ex-wife Loretta have teenaged daughters,  Eleonor and Esther. Sophie is having an affair with David, who is the father of Lars. Fritz is a gay pilot who has a long-term relationship with Robert, whose sister Laurie comes to visit from abroad. Mark is an undertaker, who does business with Isabelle who writes books; his sister Henriette helps him run the funeral home. Hannes and Sunny work in the zoo. Fabian teaches medicine at Loretta’s university.

All take turns sitting in the private practice of Max, where they hope therapy will solve their problems of loneliness, relationships, unemployment, autism, depression, hypochondria, pregnancy or anything else. And what about poor Max’s problems? Can he treat himself? In the end, all is well, although in at least one case, Panama the dog is the better therapist.

Naturally, this is an excellent opportunity to see over 20 talented German actors, some of whom you might not have experienced so far. Otherwise it’s definitely a hard 129 minutes to watch, especially for anyone who has no problems whatsoever, myself included. Suggestion for a new title: Get a Life! Why not divide this film into short chapters and make it a soap opera? It played at the 2018 Filmfest Hamburg.

 

Raus (BRD 2018, Kinostart 10.10.2018)
Regie: Philipp Hirsch
Besprechung von Barbara Ottrand
Hamburg, 12.11.2018

Glocke, ein naiver Idealist (Matti Schmidt-Schaller), meint, „unsere Welt ist am Arsch, weil die Falschen am Drücker sind“. Deshalb will er mit vier Gleichgesinnten, die er im Internet kenngelernt hat, aussteigen: „raus“ in die Natur. Er glaubt, damit  unseren gesellschaftlichen Verhältnissen, dem Kapitalismus, zu entfliehen. Fliehen muss er ohnehin; er wird von der Polizei gesucht, weil er ein verhasstes Luxusauto angezündet hat und dabei gefilmt wurde.

Er flieht zusammen mit seinen Gleichgesinnten in die Einsamkeit der Natur, wie er glaubt, in eine andere, bessere Welt. Zunächst ziehen sie glücklich durch deutsche, mystifizierte Wälder (erkennbar Harz, Schwarzwald etc.) mit hehren Idealen, dem Ziel, eine Hütte zu finden, wo sie autark, weg von ihrer bisherigen Welt, in und mit der Natur leben können.

Doch bald kommen Konflikte, die die Gruppe zu überfordern drohen. Ihre Austragung macht allerdings nicht den Eindruck, als seien die Jugendlichen im Leben mit und in der Natur im Ernst auf der Suche nach einem Gegenentwurf zu unserer Gesellschaft. Dafür wirkt alles allzu lächerlich.

Die Idee für dieses Roadmovies hätte vielleicht funktionieren können, wäre der Ablauf der Geschichte nur nicht so konstruiert und banal. Stellt sich die Frage, ob die Jugend von heute, vor allem aber das Thema „Kritik“ (an unserer Gesellschaft), so einen Film verdient hat.

 

Bad Times at the El Royale (USA 2018, Kinostart 10.10.2018)
Regie: Drew Goddard
Besprechung von Becky Tan
Hamburg, 20.10.2018

The El Royale Hotel is built right on the border of Nevada and California so that one can choose to stay in either state. It seems practically abandoned until a man arrives and checks into a room. He quickly hides a bag before his door bursts open and he is shot.

Ten years later, now the end of the 1960s, several guests arrive and check in with the help of hotel clerk Miles (Lewis Pullman). Father Daniel Flynn (Jeff Bridges) insists on a certain room. Darlene (Cynthia Erivo) is a singer who shares her talent with anyone who will listen; she plans to perform in a club in Reno. Laramie Seymour Sullivan (Jon Hamm) is a travelling salesman for appliances. Emily Summerspring (Dakota Johnson) arrives with her younger sister, Ruth (Cailee Spaeny) in tow; she is trying to save Ruth from the clutches of bad-guy boyfriend, Billy Lee (Chris Hemsworth), who also arrives.

Slowly small clues reveal secrets about the hotel guests, as well as the hotel. There is a mysterious corridor around the back with two-way mirrors into each room. Why is Ruth tied to a chair? Why does Laramie check out the fancy cars and go to a telephone both to call Edgar Allen Hoover of the FBI and say, “Sir we have a problem.” Why does Miles seek absolution for his sins?

This is being billed as a horror murder mystery, but I would also add: comedy and musical. The plot, in spite of a long 141 minutes, goes fast as small clues, revealed bit by bit, definitely hold one’s attention, all solved without the use of a mobile phone, which did not yet exist. I had to laugh frequently – quite bizarre, considering the number of corpses which pile up.  Especially good are the actors (including Canadian film director Xavier Dolan in a supporting role). Cynthia Erivo, who performs many of the songs, also has a successful career as musical singer and song writer.

 

Nicht ohne Eltern (Frankr./Belg. 2017, Kinostart 21.06.2018)
Regie: Vincent Lobelle, Sébastien Thiéry
Besprechung von Becky Tan
Hamburg, 20.06.2018

André (Christian Clavier) and Laurence (Catherine Frot) Prioux, a married couple of 30 years, are shopping at the super market, when suddenly a strange young man puts a box of cereal into their cart. There is an argument and the young man disappears with their groceries. André and Laurence are forced to start from scratch with a new shopping cart. They return with four bags of groceries, having discussed the strange procedure in the car all the way home. Inside they realize that someone has broken into their house. The original groceries are in the kitchen; the young man is taking a shower. Thus begins a strange communication with this boy named Patrick, who has definite speech problems; still they understand enough to realize that he claims to be their son. How could they have a son without knowing it? Laurence accuses André of having an affair resulting in a child. André resists not only such accusations, but also any interaction with a young man claiming to be family. Laurence gradually succumbs to a motherly interest in Patrick who calls her Momo. And then he disappears with their car. Is he a crook? But no! He returns with his pregnant, handicapped wife Sarah (Pascale Arbillot) in tow.

This delightful French comedy is based on the play of the same name, also by Sébastien Thiéry. Although having written plays for 15 years, this is his first creation to reach the cinemas. Thiéry was happy to direct, as well as play the difficult role of Patrick who is deaf. This is practically a five-person performance, much like a play would be, although it is difficult to imagine having a dog on stage, whereas here the dog is also a very good actor, answering to Schweizerdeutsch in this German version. In the beginning, there was some discussion about offering up physical handicaps for laughs, but Thiéry says, “The audience laughs, yes, but is also deeply moved.” His own brother is deaf. The actors, especially Thiéry and Clavier, are themselves worth a trip to the cinema. Now I would like to see it in the original French with subtitles, just to experience the impression that language probably adds to the overall fun.

 

Die Augen des Weges (Dokumentarfilm, Peru 2016, Kinostart 10.05.2018)
Regie: Rodrigo Otero Heraud
Besprechung von Becky Tan
Hamburg, 11.05.2018

Director Rodrigo Otero Heraud is a native of Peru, born 1978 in Lima. In his documentary he accompanies a spiritual master and healer, Hipólito Peralta Ccama, through the Andes (also called Andean) mountain area in Peru, populated by farmers in small villages.

Ccama travels from one village to the next and helps people along the way, blesses them and continues. He has neither a permanent home nor any possessions, except the few things he carries in his bag, such as a razor for shaving over a creek. As someone deeply attached to, and well acquainted with, the area, he is the perfect guide for Heraud and therefore for us, also.

As we follow him, we gain respect for the people, who are self-sufficient and live far from any modern conveniences. Ccama says that city people should respect these farmers, because without their harvest, the city people would have much less on their tables. Traditions hold the villagers together.

This is a quiet film; often we hear only the running water of a stream. Ccama is deeply attached to nature and says, “Even a stone has a heart.” He talks of Pachamama, a mother- earth goddess of fertility who protects nature. We see Apu Tambraico, an area featuring a high wall of rock.

My favorite scene showed men sitting on the ground cooking potatoes. The photography is fantastic, of course, as is the music which stems mostly from native songs. The film is entirely in the indigenous language called Quechua, with subtitles. Here we have a splendid opportunity to learn about a part of the world which we may never personally see.

 

Wohne lieber ungewöhnlich (Frankr. 2016, Kinostart 17.05.2018)
Regie: Gabriel Juliej-Laferrière
Besprechung von Becky Tan
Hamburg, 11.05.2018

What could be more chaotic than a patchwork family? Here we have Sophie hooking up with Hugo, who was with Babette, while she was formerly with Claude and then Philippe who was with Madeleine. And then there is Agnès who was together with Paul.

“Anyway, relationships only work in films.” The results of this mess are seven children from Oliver, the oldest, to Gulliver, the youngest, as well as Bastien, Clara, Juliette, Leopoldine, and Eliot. They live in an unstable atmosphere, are shuffled from house to house, as well as from piano to chess to dance lessons, never knowing who is responsible.

Soon the kids have had enough, (“They can’t keep track of everyone.”) and demonstrate who the real adults are. Under the guidance of Bastian they move into Eliot’s deceased grandmother’s huge apartment. At first, each parent believes the child is with the other parent and only Grandma Aurore senses the situation.

The kids distribute a definite schedule of rules and regulations to the parents, indicating hours they must be available to help in various ways. Luckily, the so-called adults slowly catch on to their roles as mature parents and begin to enjoy the opportunities to cooperate and be together.

Director Gabriel Julien-Laferriére said that in France every second marriage ends in divorce. He especially enjoyed working with young actors and said, “Sometimes while filming, the children had better ideas than I did, which improved many scenes.” See the film for fun and some truth about real life.

 

Mord Ex Machina (Tatort BRD 2018)
Keiner kennt Michael Hastings. Der Big-Data-Tatort zum 34C3e

Regie:
Christian Theede

Filmbesprechung von Thomas Barth
Thomas Hamburg, 25.01.2018
Quelle hier ==>

Spoilerfreie TV-Filmkritik nebst Essay über Hacker, Gefahren von Big Data und selbstfahrenden Autos sowie den mysteriösen Tod des US-Journalisten Michael Hastings, der CIA-Direktor Brennan kritisieren wollte (und schon den JSOC-General Stanley McChrystal mit einem Artikel zu Fall gebracht hatte)

Manche Besucher des 34. Chaos Communication Congress haben, just aus Leipzig heimgekehrt, beim Neujahrs-Tatort der ARD ihre Themen weiterverfolgen können. Wohl eher Zufall als cleveres Timing, vergaßen die Filmemacher einen durchaus möglichen Querverweis auf den Chaos Computer Club einzubauen. Doch die kritische Aufbereitung des Themas „autonomes Auto“ als Thriller im Big-Data-Milieu war prinzipiell lobenswert und dürfte in den PR-Abteilungen mancher Firma dieser Branche zu Herzrasen und Schweißausbrüchen geführt haben. Die Image-Beschädigung vor Millionenpublikum wieder wett zu machen, könnte einiges an Werbung und Lobbyisten-Arbeit kosten.

Die bildungsbürgerliche Süddeutsche (SZ) legt schon mal vor und bringt einen erregten Verriss: „Im „Tatort“ aus Saarbrücken geht es um Datendiebstahl und wie sich der auf die Privatsphäre auswirkt. Das ist ziemlich viel Kulturpessimismus zum Jahresauftakt.“ Nein. Ist es nicht. 15.000 Besucher (Rekord) des 34c3 würden dies vermutlich bestätigen. (Der Tatort „Mord Ex Machina“ ist noch bis Ende Januar in der ARD-Mediathek verfügbar.)

Mord Ex Machina: Der Plot

Düsterer Hacker knackt in dunklem Zimmer vor drei Bildschirmen einen Firmenrechner, soviel Klischee muss sein. Seine sexy Mithackerin Natascha wälzt sich derweil im Bett mit dem Justiziar des Big-Data-Unternehmens Conpact, Sebastian Feuerbach. Feuerbach hatte Streit mit seinem Freund und Geschäfts-Partner, dem „visionären“ Firmenboss Victor Rousseau, weil dieser ungehemmtes Big Data betreiben möchte -auch in hypermodernen, autonom fahrenden Autos. In einen dieser Prototypen steigt der virile Jurist und rauscht prompt durch die Leitplanke des Parkhochhauses.

Selbstmord oder Unfall? So rätselt Kommissar Stellbrink, kommt aber schnell darauf, dass dieses High-Tech-Mobil womöglich gehackt wurde. Doch das Hacker-Pärchen ist fein raus: Rousseau hatte sie engagiert, um nach Sicherheitslücken in seinem Firmennetz zu suchen. Nebenbei, erfährt man, sollte in die Bordcomputer der neuen Wagen eine Hintertür eingebaut werden, so dass die Firma Conpact alles mitschneiden kann, was die Dutzenden Kameras in und um den Wagen aufzeichnen. Brisant, denn die Bundesregierung ist der erste Kunde und will ihren Limousinenpark von Conpact auf autonomes Fahren umrüsten lassen…

Stellbrink muss sich durch hippe Firmenwelten, erotisch aufgeladene Beziehungen und eine terroristische Vergangenheit wühlen, um den Fall aufzuklären. Filmtitel und Idee ähneln zwar einem gleichnamigen Film der Sherlock-Verschnitt-Serie „Elementary“, aber besser gut geklaut als schlecht erfunden -und Tatort punktet mit ernsthafter Gesellschaftskritik am Phänomen Big Data.

Viele dubiose, kleine Firmen bevölkern den Datenmarkt. Doch beherrscht wird er von großen, international agierenden Konzernen, wie zum Beispiel Acxiom, Datalogix, Rapleaf, Core Logic oder PeekYou. Acxiom, einer der Branchenriesen, erwirtschaftet weltweit mehr als eine Milliarde US-Dollar pro Jahr und verwaltet über 15.000 Datenbanken für seine über 7000 Kunden. Der Konzern verfügt über 700 Millionen aktive Konsumentenprofile, darunter mehr als 40 Millionen aus Deutschland.“ c’t Digital gebrandmarkt – Wie Kundendaten gesammelt, gehandelt und genutzt werden

Der Hintergrund: Big Data und Cyberattacken

Spätestens seit Snowden wissen wir, dass Geheimdienste gerne solche Daten abschöpfen, sicher nicht nur aus Merkels Handy. Warum sollten Firmenbosse nicht auch selber zugreifen? Zumal wenn sie im Big Data-Business sind? Die Kritik an diesem Business wird von „Mord Ex Machina“ noch weiter getrieben: Der nicht sehr computer-affine Kommissar, der sich just nur mühsam auf einer Dating-Site bewegte, erfährt staunend vom Nutzer-Profiling, wo nach 68 „Likes“ auf Facebook seine Persönlichkeit nach dem „OCEAN“-Modell bewertet werden kann: Michal Kosinskis psychometrische Big-Data-Analyse machte 2016 Schlagzeilen, weil angeblich Trumps Wahlkampf und der Brexit mit so lancierter Werbung erfolgreich waren. Auch wenn dies übertrieben war -vor Datenklau und Profiling zu warnen ist sicher nicht falsch von den Tatort-Machern, zumal sie ihre Gesellschaftskritik filmisch überzeugend vermitteln: Einzelne Personen werden immer wieder sekundenlang eingefroren, vor verschwommenem Hintergrund unnatürlich scharf anvisiert: Wie unter dem Mikroskop von Netz-Profilern. Die SZ sieht das allerdings anders und nörgelt:

…und das Internet mal wieder ganz böse. Man sieht die Zuschauer auf dem Sofa förmlich mitschimpfen: „Ja, genau, dieses neumodische Internetzeug. Pfui!“ Angesichts dieser altbackenen, uninspirierten und kulturpessimistischen Heransgehensweise hilft alles nicht: Man muss einfach mit den Augen rollen. Und ganz tief seufzen. Nicht schon wieder. Carolin Gasteiger, SZ-Tatort-Fernsehkritik.

Damit stellt sich die einst sozial-liberale SZ treu an die Seite der stramm-konservativen NZZ, die 2009 in ihrer wütenden Abrechnung mit den Tatort-Machern „Traurige Kommissare“, deren Gesellschaftskritik als „Feuilleton-Soziologie“ und „Gesinnungskitsch“ geißelt. Die Tatort-Helden hätten doch alle Probleme, so die NZZ, seien „Gutmenschen, Allesversteher und Betroffenheits-Betschwestern“ und würden zudem Schusswaffeneinsatz scheuen „wie der Teufel das Weihwasser“. Das ist sicher schlecht für die Schweizer Waffenindustrie, die bekanntlich die Verbrecher halb Europas mit Schießeisen versorgt. Aber wenn dann doch mal ein Till Schweiger im Rambo-Stil zur Knarre greift, ist es auch wieder nicht allen Recht zu machen: Die Zensurbehörde in Kiew monierte, dass dabei zu wenig Russen erschossen wurden. Die jüngste Kritik an Big Data und Roboter-Autos sollte dagegen weniger anecken, aber die SZ mault abschließend über die „altbackene“ Gesellschaftskritik:

„Jens Stellbrink zieht aus den verstörenden Erkenntnissen des Falles Konsequenzen: Der Kommissar löscht sein Online-Dating-Profil, holt einen Falke-Stadtplan aus der Schublade und wirft sein Smartphone vom Balkon. Das ist platt und verbohrt: Als könnte man den digitalen Entwicklungen und Herausforderungen so begegnen.“ (SZ)

Doch, liebe SZ, so leicht kann es manchmal sein: Smartphone weg und Profil löschen. Ach, hätte die SZ das „neumodische Internetzeug“ doch nur zu Recherchezwecken eingesetzt, dann hätte sie erfahren, dass die Kritik gar nicht so „altbacken“ sein kann, wenn sie etwa vom 34c3 geteilt wird. Oder dass der digital gemeuchelte Datenschützer Feuerbach nicht „platt und verbohrt“, sondern recht feinsinnig besetzt wurde: Der Darsteller Nikolai Kinski, ein Sohn Klaus Kinskis, lieh sein Konterfei zuvor dem preisgekrönten Netwars-Projekt (Grimme Online Award 2015).

Oder dass der kulturpessimistische Plot womöglich einen realen Vorläufer hatte: Den Fall des bei einem mysteriösen Autounfall getöteten CIA-Kritikers Michael Hastings. (Anm. Die SZ übte früher selber Digital-Kritik: In der Snowden-Hype durfte dort Daniel Ellsberg über die NSA als „Stasi von Amerika“ schimpfen).

Risiko Car-Hacking: Michael Hastings

Der erst 33-jährige Hastings starb 2013, was Fragen nach einem möglichen Hackerangriff auf sein Auto auslöste: Die Huffington Post warnte vor „conspiracy theories“; Wikileaks twitterte, der preisgekrönte Investigativ-Journalist Hastings hätte kurz vor dem Unfall versucht, die WikiLeaks-Juristin Jennifer Robinson zu kontaktieren; DER SPIEGEL will vom Thema car hacking nichts mitbekommen haben; USAtoday berichtete, Hastings hätte versucht, sich den Wagen seiner Nachbarin zu leihen, weil er fürchtete, an seinem Mercedes wäre herum gepfuscht worden; das Auto der Nachbarin wäre aber defekt gewesen -dann starb Hastings, der gerade an einer heißen Story zu CIA-Chef Brennan dran gewesen sein soll.

Michael Mahon Hastings (1980-2013) war ein US-amerikanischer Investigativjournalist und Schriftsteller. Er war Mitherausgeber des Rolling Stone und Korrespondent für BuzzFeed. Sein Artikel 2010 über den General, ehemaligen JSOC-Kommandeur und US-Oberbefehlshaber der NATO in Afghanistan, Stanley McChrystal, führte zu dessen umgehender Entlassung durch US-Präsident Barack Obama. Hastings arbeitete zuletzt, laut Aussage seiner Witwe Elise Jordan, an einer Geschichte über CIA-Director John O. Brennan, er fiel 2013 einem Autounfall zum Opfer, so der offizielle Polizeibericht. Allerdings zeichneten Kameras drei Explosionen auf, der Motorblock lag in erheblicher Entfernung. Es gab diverse weitere Indizien, Hinweise und auch Zeugenaussagen, unter anderem von WikiLeaks, Richard Clarke und dem „Buzz-Feed“-Chefredakteur Ben Smith, die insgesamt einen Mord wahrscheinlicher erscheinen lassen. (…)

Am Tag vor seinem Tod äußerte Hastings, sein Mercedes könnte manipuliert worden sein, und bat deshalb seine Freundin Jordanna Thigpen, ihm ihren Wagen zu leihen. Er fühle sich bedroht und wolle die Stadt verlassen. Stunden vor seinem Tod schrieb Hastings seinen Freunden und Arbeitskollegen in einer E-Mail das FBI würde seine Freunde befragen: „Ich bin an einer großen Geschichte dran und muss eine Weile vom Radar verschwinden.“ Die E-Mails wurden am 17. Juni 2013 gegen 14 Uhr verschickt. Gegen 4.20 Uhr des nächsten Dienstagmorgen, 18. Juni 2013, starb Hastings. Dem Polizeibericht nach saß er allein in seinem Mercedes C250 auf der nördlichen Highland Avenue in Hollywood, als er aus unbekannter Ursache die Kontrolle über das Fahrzeug verlor. Das Auto kam von der Straße ab, durchbrach eine Leitplanke und fuhr ungebremst mit hoher Geschwindigkeit gegen eine Palme. Der Mercedes explodierte in einem Feuerball, der Motorblock lag in auffällig großer Distanz vom Auto, und Hastings Leiche verbrannte so stark, dass der Gerichtsmediziner ihn erst zwei Tage später anhand seines Gebisses identifizieren konnte. Laut Polizeibericht war es ein selbst verschuldeter Autounfall, es konnten keine Beweise für eine Fremdeinwirkung festgestellt werden. Wikipedia (dt.)

Das FBI dementierte nach dem Todesfall, Hastings überwacht zu haben, was aber laut US-Wikipedia nicht stimmt. Die US-Behörden hatten ein Jahr zuvor begonnen, den kritischen Journalisten, einen Freund des TYT-Gründers Cenk Uygur, ins Visier zu nehmen. TYT (The Young Turk) ist ein kritisches US-Mediennetz, das den Mainstream-Medien die Stirn bietet und hierzulande kaum Beachtung findet (TYT zu Hastings Tod).

The FBI released a statement denying that Hastings was being investigated, at least not by their agency. This statement was incorrect as FBI had opened a file on Hastings as early as 2012 (see FBI files below). Wikipedia (engl.)

Diese in deutschen Medien auffällig selten erwähnte, beinahe totgeschiegene Geschichte zeigt: Man braucht womöglich kein komplett autonomes Fahrzeug, um jemanden digital zu verunfallen (wovor CCC-Hacker schon lange warnten). Die Anspielung auf Michael Hastings Tod haben die ARD-Filmemacher allerdings komplett übersehen (oder hatten sie Angst, den kaum bekannten Fall zu erwähnen?). Dabei liegt im eigenen Archiv eine NDR-Doku von 2014, bei der dieser Todesfall als mögliches Auto-Hack-Attentat angeführt wird, Titel: „Im Visier der Hacker – Wie gefährlich wird das Netz?“ (in der Mediathek der Öffentlichkeit nicht mehr zugänglich, aber im freien webarchive dokumentiert).

„Ein brennender Unfallwagen im nächtlichen Los Angeles. Ein Mercedes als Trümmerhaufen, Ursache unklar, keine Zeugen. In den Flammen stirbt der US-Journalist Michael Hastings. Er recherchierte gerade an einer neuen Enthüllung. Seine letzte Story hatte einen Elite-General die Militärkarriere gekostet. Der Daimler-Konzern sieht angeblich keinen Grund, der Sache nachzugehen. Doch in der NDR-Reportage über die Risiken der Welt von morgen hält es der langjährige US-Sicherheitskoordinator Richard Clarke für durchaus möglich, dass der Wagen von außen gehackt wurde.“
ARD-Mediathek (webarchiv)

Im Tatort grämt sich eine Kommissarin angesichts des Mordes per Auto-Elektronik: „In zehn Jahren werden wir jede Menge autonom fahrende Autos auf der Straße haben -wer sagt mir dann, was ein Unfall war und was nicht?“ Willkommen in der Gegenwart liebes Tatort-Team. Oder, mit der traditionellen Abschlussformel des Chaos Communication Congress zum Jahresende: „Guten Rutsch ins Jahr 1984!“ (padeluun)

Dämonisierung der Hacker

Unerfreulich am Tatort-Plot ist schließlich, dass leider doch wieder ein paar Hacker kräftig dämonisiert werden. Denn im Verlauf der Ermittlungen taucht eine frühere Hackergruppe auf, die 2002 eine „ethisch motivierte“ Cyberattacke verübte. Die Hacker hätten auf die „Gefahren der Digitalisierung hinweisen“ wollen, in dem sie in der Nacht des 29.9.2002 alle Ampeln von Nancy auf „Grün“ schalteten. Trotz Vorwarnung gelang es den Behörden nicht, den Anschlag auf das Verkehrsleitsystem zu vereiteln (daran, die Ampeln einfach abzuschalten, hatte man offenbar nicht gedacht). Ergebnis: Vier Todesopfer und 48 Verletzte, für die unsere Hacker verantwortlich zeichnen.

Und nicht genug -der Tatort zeigt dramatische Zeitungstitel zum frei erfundenen Terrorangriff: “Une cyberattaque sur le feux de circulation“, “Les terroristes de l’internet -le nouveau danger“, „Nancy Crash: Beide Eltern zerquetscht“, daneben ein weinendes Kindergesicht; dann Überblendung ins Gesicht einer Hackerin, aus deren Auge eine Träne rollt. Das ist etwas dick aufgetragen und außerdem: Ethisch motivierte Hacker hätten sich darauf beschränkt, die Ampeln alle auf Rot zu schalten, statt Menschenleben zu riskieren. Doch so kommen selbst die vernünftigen Warnungen vor digitaler Gefahr natürlich viel dämonischer rüber.
(Der Tatort „Mord Ex Machina“ ist noch bis Ende Januar in der ARD-Mediathek verfügbar)

 

Die Kanadische Reise (Frankr./Kanada 2017, Kinostart 14.12.2017)
Regie: Philippe Lioret
Besprechung von Becky Tan
Hamburg, 14.12.2017
pdf-Datei -->TAB-DKR

Mathieu (Deladonchamps) in France, receives a call from a stranger, Pierre (Arcand), in Canada. Matthieu learns that his father, Jean, died in a fishing accident, and has left him a package. He is stunned to say the least, because his mother, who died eight years prior, always told him that he was the result of a one-night stand, father unknown. Mathieu takes leave from his wife and small son, and departs for Montreal. He meets Pierre, who turns out to be his father’s old friend and colleague (both working in medicine). In the end he even stays in Pierre’s house with his wife Angie (Fortin). Their daughter Bettina (de Léan) is visiting from Vancouver with the two granddaughters. Their friendship grows, including a spark of attraction between Mathieu and Bettina, a bad idea, since both are married. Pierre gives him his father’s package: a valuable painting of a young man. Access to the two half-brothers, whose existence is also a surprise, is more difficult. Pierre suggests that Mathieu take it slowly and pretend to be his guest. Eventually they all go out together around the lake to search for the father’s body.  Although the details are uncertain, Jean is assumed dead; the funeral will commence without a corpse. Mathieu eagerly absorbs stories about his father, which Pierre can relate in great detail.

Director Philippe Loret said he was inspired by the book Si ce livre pouvait me rapprocher de toi by Jean-Paul Dubois, although “only keywords are left: father, discovery, brotherhood, Canada, sister.”  In other words, the film is not a direct adaptation of the book. It was filmed mostly in Canada with all French-Canadian actors, except for Deladonchamps, who comes from France. Most musical background stems from the plot; for example, Bettina and her father play a Chopin waltz on the piano. The story progresses slowly as family secrets are revealed in very small hints, easy to miss if one does not pay attention. My first reaction was, “I want to view this excellent film again, right now, so that I can detect small clues that I missed the first time.” It first showed at the 2016 Toronto film festival.

 

Justice League (USA 2017, Kinostart 16.11.2017)
Regie: Zack Snyder
Kurzbesprechung von Franz Witsch
Hamburg, 15.11.2017

Superman (Henry Cavill), Batman (Ben Affleck), Aquaman (Jason Momoa), Wonder Woman (Gal Gadot), The Flash (Ezra Miller) und Cyborg (Ray Fisher) schließen sich zu einer “Liga der Gerechten” zusammen, um die Welt vor dem Bösen schlechthin zu retten. Und erzeugen dabei im Kinosaal geschlagene zwei Stunden ohrenbetäubenden Lärm. Kein Problem für unsere Kids und regressierende Erwachsene: der Film wird ein Riesenerfolg an der Kinokasse; derart trägt er bei zur Infantilisierung sozialer Strukturen, flächendeckend und schichtübergreifend zur Ausformung eines gesellschaftlichen Kontextes, in dem sich “wirkliches Interesse” der Menschen füreinander nicht zu entfalten vermag.

Es ist ernüchternd, dass ein profilierter Schauspieler wie Jeremy Irons in diesem Film mitmacht, um in ihm, anstatt ihn zu adeln (was nicht möglich ist), wie ein Fremdkörper, jedenfalls nicht wie ein Schauspieler zu wirken, – als habe er in Zukunft bessere Tage nicht mehr zu erwarten.

 

Tom of Finland (Finland/Sweden/Denmark/Germany 2017, Kinostart 05.10.2017)
Regie: Dome Karukoski
Besprechung von Becky Tan
Hamburg, 02.10.2017

Touko Laaksonen (Pekka Strang), born 1921, rose to second lieutenant in the Finnish army during World War II. After the war, he returned to an unfriendly country where homosexuality was a crime. He lived with his sister Kalja (Grabowsky); both were talented illustrators for an advertising agency. He had a life-time relationship with male dancer Veli Nipa Mäkinen (Lauri Tilkanen), a secret which not even his family knew about until his death in 1991. He began illustrating muscular, good-looking, gay men, for his friends. Some of these homoerotic illustrations, published under the pseudonym Tom of Finland, appeared in a body-building magazine Physique Pictorial in Los Angeles in 1950. Twenty years later, his drawings were well-known around the world and today they are in art museums for all to see. He is credited with furthering the Gay Revolution in the 1970s. His “men” were strong, muscular, and proud or as he said, “motorcycle clubbers without the motorcycle” – not girly wimps at all. Leather became stylish. He inspired such artists as Freddy Mercury, Andy Warhol, Madonna, and Jean Paul Gaultier. Director Karukoski said, “Touko and this film show how a single person, armed only with a pencil, can change the world.”  The Tom of Finland company was founded in 1979, the Foundation in 1984. Nowadays there is even Tom of Finland fashion available online. The film is recommended to everyone regardless of sexual choice, not only for its interesting Finnish actors, but also, as historical background on the progress of gay rights. Tom of Finland opens in Germany just a few days after marriage between gay partners becomes legal in this country: October 1, 2017. We’ve come a long way.

 

Eine fantastische Frau (Chile, BRD 2016, Kinostart 07.09.2017)
Regie: Sebastián Lelio
Besprechung von Franz Witsch
Hamburg, 31.08.2017
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Filmen kommt eine wichtige sozial- und politikwissenschaftliche Funktion zu: Sie tragen heute entscheidend dazu bei, soziale Sachverhalte, die ansonsten im Innenleben des Bürgers ein indifferentes Leben fristen würden, zu verbegrifflichen, zumal in einer Welt ausdünnender Kommunikation, in der Menschen zunehmend überfordert sind, über Gefühle zu sprechen, wenn sie negativ sind. Sie illustrieren mentale Dispositionen in ihrer Verbindung zu sozialen Kontexten, um dem Zuschauer zunächst zu bedeuten, dass es sie gibt oder geben könnte, was allerdings nicht einschließt, dass er außerhalb des Kinos in der Lage wäre, über jene Verbindungen zu sprechen; ist das Kino für die meisten Zuschauer doch eine (von der realen Welt isolierte) Welt für sich, in der „große Gefühle“ gelebt werden können, mithin schon mal Tränen fließen, die Zuschauer außerhalb des Kinos zu verbergen bemüht sind.

Kommen Gefühle (außerhalb des Kinos) ins Spiel, wird’s eng. Sie entziehen sich einer (außersubjektiven) Institutionalisierung: einer vorhersehbaren, konventionellen resp. allgemein anerkannten Versprachlichung. In dieser geht es um Bedeutungsgehalte, die man dem Wort oder Zeichen(ketten) zuschreibt, um Menschen normgerecht bzw. vorhersehbar zu verbinden, während das Kino, wenn es denn gutes Kino sein will, bemüht sein sollte, im Zeichen vergegenständlichte außersubjektive Bedeutungsgehalte innersubjektiv zu rekonstruieren, gewissermaßen neu zu erfinden – nicht indem Kino neue Zeichen mit einem zeichenspezifischen Bedeutungsgehalt erfindet, sondern dem Zuschauer hilft, Bedeutungsgehalte geläufiger Zeichen mit neuen oder modifizierten Bedeutungsgehalten zu überschreiben.

Derart kann Kino zur Verbegrifflichung bislang unsagbarer sozialer Sachverhalte beitragen, – ein zunächst mentaler (innerer) Vorgang, heute immer schwieriger zu bewältigen wiewohl wichtiger in einer Zeit gesellschaftlichen Niedergangs, in der Menschen im unmittelbaren Kontakt zueinander immer weniger voneinander erfahren, das überrascht: ihre Beziehungen wie ihr Innenleben sind institutionalisiert, nahezu vollständig, könnte man vermuten. Gleichwohl sind soziale Strukturen, insbesondere Massengesellschaften ohne einen angemessenen Grad der Institutionalisierung des Innenlebens nicht lebensfähig; sie regressieren (wie ihre Menschen, die sie tragen) allerdings, wenn Menschen nur „nachplappern“ (was alle sagen), zumal wenn man ihnen auch noch abverlangt, dass sie nachplappern.

Mit anderen Worten: Abweichungen von der Norm werden immer weniger geduldet: wer nicht für mich ist, ist gegen mich. Du redest wie ein Putin-Freund. Hinweg mit Dir! So ticken die meisten Menschen mental; so will es der Mainstream; so wollen es sogenannte seriöse (Print-)Medien, der öffentlich-rechtliche Diskurs. Und werden doch alle immer wieder konfrontiert mit besonderen Filmen wie u.a. “Eine fantastische Frau” oder “It Comes at Night”, die in ihrem Bedeutungsgehalt zu entschärfen jene sogenannten seriösen Medien immer wieder bemüht sind, ganz generell, indem sie das Besondere, das Differenzielle, das guten Filmen wie der “Fantastischen Frau” zukommt, gleichschalten, mehr oder weniger im Gut-Böse-Schema: hier die Guten, dort die Bösen. Das geschieht konventionell, indem Figuren, die es verdienen, überhöht, auf einen Sockel gehoben werden, um sie allgemeiner Bewunderung auszusetzen, indes mit der Nebenwirkung, dass sie dort, in luftiger Höhe, als soziale Sachverhalte nicht mehr begreiflich, einer differenziellen (und damit substanziellen) verbegrifflichenden Analyse nicht mehr zugänglich sind.

Marina (Daniela Vega) ist diese fantastische Frau, ein unglücklicher Titel, wie gleich deutlicher wird; sie wird in den seriösen Medien oder solchen, die sich dafür halten, herablassend entsorgt mit Sätzen wie “Eine Frau geht ihren Weg”, “Marina lässt sich nicht unterkriegen” (kino-zeit.de), “Die Kamera ist verliebt in Marinas Gesicht” (Tagesspiegel) oder betulich – den Experten raushängend – mit dem folgenden Fazit: “Marina ist tatsächlich eine ganz fantastische Frau” und habe deshalb “einen besseren Film verdient gehabt.” (filmstarts.de).

Mit solchen Sätzen bringen Filminterpreten, ohne es zu ahnen, zum Ausdruck, dass sie sich für Menschen, die sich einer Überhöhung verweigern, nur begrenzt interessieren. Dass sie sich für Kino nur begrenzt interessieren. Es fragt sich, für was sie sich überhaupt interessieren außer für sich selbst? Marina ist alles Mögliche, doch warum sie gleich “fantastisch” nennen? Es ist ein Eigenschaftswort, das charakterliche Indifferenzen transportiert und damit das Innenleben (der Filmfiguren wie der Zuschauer) gleichschaltet. Und Filmverantwortliche entblöden sich auch nicht mit mensch-überhöhenden Filmtiteln wie „Eine fantastische Frau“ die üblichen Zugeständnisse an den Mainstream zu machen, wie um seine Repräsentanten in ihren Interpretationsbemühungen mental nicht zu überfordern.

Ihren Weg geht Marina, eine Transsexuelle, deren Freund und Geliebter Orlando (Francisco Reyes) nach einer Liebesnacht unter ihren Händen wegstirbt, gerade nicht. Wie auch in einer Umgebung, die sie ausgrenzt und diese Ausgrenzung mit zum Teil gewalttätigen Demütigungen begleitet. Insbesondere Sonja (Aline Küppenheim), die eifersüchtige Ex-Frau von Orlando, macht ihr das Leben zur Hölle, z.B. indem sie das Gerücht eines Verbrechens streut und Marina eine Kommissarin (für Sexualstrafdelikte) auf den Hals hetzt, außerdem dafür sorgt, dass sie sich einer peinigenden gerichtsmedizinischen Untersuchung aussetzt, angeblich um sie zu entlasten, in Wirklichkeit zur eindeutigen Identifizierung ihres Geschlechts und damit ihrer “Perversität”.

Demütigung folgt auf Demütigung, der sich Marina nicht zu entziehen vermag. Dazu müsste sie sich für die Umgebung unsichtbar machen, differenzielle mentale und körperliche Eigenschaften verbergen, sein wie jede(r) andere. Geht nicht; also muss sie ihre Umgebung ertragen. Beziehungen, die ihr nicht ohne Mühe bleiben, helfen nicht wirklich weiter. Einer Untoten gleich bewegt sie sich in einer ihr feindlich gesonnenen Welt; man könnte vielleicht sagen, traumatisiert; freilich in gewisser Weise ohne Begriff (einer Traumatisierung); erfahrbar in bewegten und bewegenden Bildern des Films, jedenfalls für Zuschauer, die in Dialoge hineinhören (können), als käme ihnen ein Innenleben zu, das explizit im Satz „Marina ist traumatisiert“ nicht aufgeht. Man sagt ihn und kann nicht sagen, was das „konkret“ ist: ein Trauma, es sei denn, es ergibt sich in einer extremen Ausnahmesituation unmittelbar zu erkennen, z.B. bei Kriegsheimkehrern oder Holocaust-Überlebenden wie dem Pianisten in Polanskis Film „Der Pianist“.

So gesehen bleibt das Traumatische, wenn es denn im alltäglichen Normalbereich spürbar ist, zunächst unsagbar, wiewohl für Ausgegrenzte wie Marina im Vorfeld eines sagbaren sozialen Sachverhalts schon allgegenwärtig durch eingeübte Denk- und Verhaltens-Mechanismen, mit denen es Marina – wie um ihr Trauma zu bannen – zwar gelingt, ihrem Leben eine Struktur zu verleihen, allerdings mehr schlecht als recht: ver-institutionalisiert (wie wir es auch bei Hartz-IV-Abhängigen kennen), um Überraschungen, die Leben lebenswert machen, aus dem Weg zu gehen, weil ihre Umgebung Überraschungen nicht will und mit ihren Demütigungen unsagbares Traumatisches auslösen könnte. Das lässt den obigen Satz “Eine Frau geht ihren Weg” deplaciert erscheinen.

Sie geht ja, doch was für ein Weg soll das sein? Vielleicht den zu ihrem Gesangslehrer, der sie mag, sich aber nicht für ihre Einsamkeit, sondern nur für ihre Gesangstechnik zuständig fühlt. Damit sie in der Musik – ihrer Musik – zur Ruhe kommt, allerdings abgeschottet von der Realität, die traumatisiert. Zuweilen tut’s ein psychodelischer Disco-Besuch, wo sie sich im Tanz wie unter Drogen für ein paar Momente Rauschzustände spritzt. Das sind Wege, die auf Dauer nirgendwo hinführen, es sei denn in die Welt eines Gefühlsjunkies, der seine Umgebung daran bemisst, ob sie ihn mit (Hoch-) Gefühlen bedient, die er mit Mühe zu generieren in einem sprachgestützten intersubjektiven Kontext nicht in der Lage ist.

Hier hätten wir vielleicht eine erste Annäherung an den Begriff der Traumatisierung, die im Hochgefühl aufgeht, prekär, möglicherweise unkontrollierbar, es sei denn, das Subjekt ist zu Gefühlen auf natürliche Weise (ganz ohne Drogen im intersubjektiven Kontext) in der Lage; etwa über die Musik, wie kurz vor dem Abspann des Films durch den Genuss einer wunderschönen Händel-Arie, die unsere Heldin, eine Art Show-Down, auf der Bühne singt, extrem berührend, sodass schon mal Tränen ungefragt fließen, die allerdings – und das könnte eine weitere vorsichtige Begriffs-Annäherung sein – „krankhaft“ und „krank machend“ dem Intersubjektiven abgeneigt auf etwas anderes als auf sich selbst nicht verweisen; oder nur auf einen sozialen Sachverhalt, der ausschließlich – auf sich selbst verweisend – im Innenleben des Zuschauers aufgeht; im verzweifelten Bemühen, Traumatisierungen zu bannen, wie um sie zu beschwören, eine Verbindung zur äußeren sozialen Welt zu simulieren in der Liebe zu einer un-geerdeten mythologisierenden  Abstraktion (zum Helden, der seinen Weg macht), pure Vorstellung, die ein Außen nicht braucht, um geliebt zu werden.

 

It Comes at Night  (USA 2017, Kinostart steht noch nicht fest)
Regie: Trey Edward Shults
Besprechung von Franz Witsch
Hamburg, 24.08.2017

“It Comes at Night”, ein überaus beklemmender Horrorfilm, beschreibt am Beispiel einer dreiköpfigen Familie, was es bedeutet, einer extremen Ausnahmesituation ausgesetzt zu sein: ein tödlicher hoch ansteckender Virus hat nahezu die ganze Menschheit hinweggerafft. Paul (Joel Edgerton), seine Frau Sarah (Carmen Ejogo) und ihr 17-jähriger Sohn Travis (Kelvin Harrison) haben in einem verlassenen Haus im Wald überlebt, noch zusammen mit ihrem Großvater, der allerdings, vom Virus angesteckt, schwerkrank daniederliegt und vom Leben der übrigen Familienmitglieder wie ein Aussätziger gemieden werden muss.

Doch kann von einem Leben noch die Rede sein? Panisch vor Angst erschießt Paul den Todkranken und verbrennt ihn in einer notdürftig ausgehobenen Kule im Wald, “vernünftig”, wie es scheint, um die Familie zu retten, denkt Paul, sagt es auch, möglichst in einem Ruhe und Gelassenheit ausstrahlenden opaken Ton, der, alle charakterlichen Differenzierungen gleichschaltend, nichts über seinen inneren Zustand verraten soll. Paul weiß vernuftgründig, dass Panik alles schlimmer macht. Geht’s noch schlimmer? Gerade wurde der geliebte Großvater liquidiert. Dabei wurden Werte gegeneinander abgewogen, Nach- oder Vorrangigkeiten reflektiert: Darf man unschuldige Zivilisten töten, um einen mutmaßlichen Terroristen ferngesteuert zu liquidieren?

Fragt sich, ob in extremen Ausnahmesituationen der Vernunft-Begriff, zur Regulierung des Innenlebens wie des gesellschaftlichen Kontextes erfunden, überhaupt greift, ob ihm nicht irgendwann die Funktion zukommt, extrem traumatische oder traumatisierende Lebenserfahrungen – gleichsam magisch – zu beschwören: in irgendwie lebbares Leben zu verwandeln. Vater Paul ist jedenfalls entschlossen, das, was vom Familienleben noch übrig geblieben ist, auf geradezu extremistische Weise zu regulieren, um das buchstäblich nackte Überleben möglichst lange zu sichern, obwohl vielleicht gar nichts mehr zu retten ist; lauern doch überall Gefahren, die die Disziplin der Familienmitglieder auf eine harte Probe stellen, der sie auf Dauer nicht gewachsen sind. Am Ende herrscht dann vollständiges Chaos, totale Regellosigkeit, die sich mit einem Tabubruch, der Liquidierung des Großvaters, schon ankündigt.

Freilich wird erst in der vollständigen Regellosigkeit schwerst-traumatisiertes Denken, Sprechen und Handeln – fast möchte man sagen: endlich – sichtbar, das zuvor im indifferenten  Schatten regulierten Denkens, Sprechens und Handelns nur nicht sichtbar war. Allein behandelbar ist das Trauma nur während seiner Inkubationszeit, in der differenziertes und differenzierendes Reflektieren und Analysieren noch möglich ist.

Es drängen sich Parallelen über den Zustand unserer Welt auf, die vielleicht dabei ist, in extreme Ausnahmesituationen zu verfallen, die sich einer Kontrolle vielleicht bald gänzlich entziehen, wenn dies nicht schon längst geschehen ist. Trump, der “Widerling” (Hillary Clinton), lässt grüßen.
 

Es war einmal Indianerland  (BRD 2017, Kinostart 19.10.2017)
Regie: Ilker Çatak
Besprechung von Franz Witsch
Hamburg, 18.08.2017

Fragt ein alter Fisch ein paar junge Fische: Na, wie ist das Wasser heute? Häh...? Wasser, was ist das? fragen sich die jungen Fische. Genauso mag sich der 17-jährige Mauser (Leonard Scheicher) fühlen: er weiß nicht, in welcher Welt er lebt, jetzt, wo er in wenigen Tagen in einem wichtigen Boxkampf beweisen muss, dass er als Boxer etwas wert ist. Allein seine Welt ist zur Singularität zusammengeschrumpft, auf diesen einen Boxkampf. Während die Welt um dieses Ereignis herum ihm immer unwirklicher, unheimlicher, verschwommener vorkommt.

Wie auch nicht? Die Welt weiß um die Bedeutung seiner weltumspannenden Singularität nichts, verströmt aber dennoch liebenswürdige Gefühle. Weil Mauser sympathisch ist, auf Anhieb wirkt. Auch auf zwei junge Frauen. In beide verliebt er sich. Das wirft ihn gänzlich aus der Bahn. Und er bekommt mit der einen, die weiß, was sie will, auch gleich Ärger, weil sie mit seiner auf einen Punkt geschrumpften Welt nichts anfangen kann, es auch nicht will; schon gar nicht erträgt sie es, dass er seine Zähne nicht auseinanderkriegt, Gefühle nicht versprachlicht, in psychodelischen, manchmal auch psychotisch anmutenden Gefühlen schwelgt, die der Film in wunderschönen Farben zeichnet, als wolle er jenen Gefühlen ein Denkmal setzen, eine Welt noch einmal zum Erblühen bringen, während sie unweigerlich ihrem Ende entgegen taumelt; wie Mauser seinem Boxkampf. Herbst-Blühte. 

So weit sind seine beiden Lieben noch nicht. Keineswegs nur für sich selbst existierend, wollen sie weder die Welt noch sich selbst unwirklich-verschwommen wahrnehmen; und schon gar nicht so von jemandem wahrgenommen werden, in den sie sich verlieben, der in ihrer Welt umhertaumelt als existiere er und die Welt um ihn herum nicht real. Weil ihnen Mausers Boxkampf nicht so unter den Nägeln brennt wie seinem Vater, der ihn zum Kampf prügelt, worauf Mauser als psychisch Gefährdeter cholerisch reagiert, vermutlich weil seit seiner Kindheit auf ihn zu oft eingeprügelt wurde, um nunmehr auf Druck zu empfindlich, seiner selbst kaum bewusst zu reagieren, mit der Tendenz, aus der Welt herauszufallen, wiewohl, wie um einen damit einhergehenden Schmerz zu bannen, in einzelnen Momenten sich selbst psychotisierend; zumal – das auch noch! – sein Vater gerade seine Freundin, Mausers Stiefmutter, umgebracht hat. Frauen um ihn herum werden nicht alt. Oder aber altern vor ihrer Zeit.

Vielleicht auf andere Weise auch nicht neben Mauser in einer Welt, die ihm immer fremder wird. Wo bin ich? Was wollen all die Menschen von mir? Ja, was schon? Vielleicht einfach nur nett zu ihm sein. Er sucht Gründe, wo es keine spezifizierbaren Gründe gibt und findet keine, etwa im Familienleben, die sich aufdrängen, das er aber nur cholerisch zu verarbeiten vermag. So fühlt er sich gar nicht gut, halt wie ein Fisch im Wasser, ohne Vorstellung, dass es Wasser gibt, in dem er lebt. Das hält keiner lange aus neben jemandem, dem die Welt entgleitet, möglicherweise psychotisierend, weil er sie in ihren Differenzen nicht (mehr) wahrnimmt: Die eine Liebe verschwindet, taucht auf, um gleich wieder zu verschwinden, die andere versucht, ihn zur Rede zu stellen: Das Thema “Zähne nicht auseinander kriegen” hatten wir schon, sagt sie. Kommt noch was? fügt sie nach einer zu langen Pause hinzu.

Ja und genau das ist es, was Mauser zu schaffen macht: er weiß nicht, wer er ist, was er soll, wozu er da ist. Er ist buchstäblich nur da, weniger als ein Fisch im Wasser.

 

Killer's Bodyguard (USA 2017, Kinostart 31.08.2017)
Regie: Patrick Hughes
Besprechung von Franz Witsch (im PDF-Format lesen)
Hamburg, 15.08.2017

Gefangene werden nicht mehr gemacht. So will es uns die Action-Komödie „Killer’s Bodygaard“ bedeuten, in dem zwei ungleiche Helden von ihren nicht weniger schlagkräftigen Ex-Frauen erst genötigt werden, sich zusammenzuraufen, um sodann jede Menge Bösewichter abzuknallen. Beide wollen, dass Vladislav Dukhovich (Gary Oldman), Weissrusslands  skrupelloser und grausamer Ex-Diktator, in Amsterdam vor Gericht seine gerechte Strafe bekommt. Dazu muss der eine Held, der geläuterte Killer Kincaid (Samuel L. Jackson), innerhalb von 27 Stunden vor Gericht als Kronzeuge erscheinen, um eine entscheidende Aussage zu machen, damit dieser seine gerechte Strafe bekommen kann. Das macht der Kronzeuge nicht, um seine Strafe abzumildern, sondern seine extrem schlagkräftige Freundin Sonia (Salma Hayek) aus dem Gefängnis freizubekommen – selbstlos, versteht sich. Als er sie kennenlernte, hat er – wie putzig!? – ganz schön blöd aus der Wäsche geguckt als sie direkt vor seinen Augen einem kräftigen Gewalttäter mal eben aus dem Handgelenk die Halsschlagader aufschlitzte. Die muss ich haben! Und kriegt sie auch. LoL! Gleichwohl möchte der Film in seinen rührseligen Sequenzen ernstgenommen werden. Und so zeichnet er einen liebenswürdigen, quasi resozialisierten Killer, der es eigentlich verdient, in die Gemeinschaft normaler und wertvoller Bürger aufgenommen zu werden.

Der Filmemacher will aber mehr bieten. Nicht nur dass unsere Superhelden auf ihrem Weg zum Gericht jede Menge übelster Spießgesellen des Ex-Diktators aus dem Verkehr ziehen müssen; sie zelebrieren diese ihre Arbeit zudem mit Humor, einmal mehr putzig: mit viel Selbstironie – stöhn! – geschlagene zwei Stunden Krach, unterbrochen nur von wenigen Ruhepause. Mein Gott, was Zuschauer heute so alles aushalten. Ja, sie machen ihre ohrenbetäubende Arbeit wie vom Zeitgeist verlangt: cool. Das gilt besonders für Konflikte, die immer wieder zwischen unseren Helden hochkochen, aber, als sei das nichts, ohne viel Federlesen gelöst werden. Gefühle der rührseligsten Art kommen natürlich dabei nicht zu kurz, noch während all dieser Ballerei und besonders kurz vor dem Abspann nach dem bombastischen Showdown.

Um die Zuschauer nicht doch noch zu entnerven, wird es zwischendurch auch mal ruhig und, so ganz doof will man seine Helden denn doch nicht, gar bibelfest: Die Rache ist mein, sprach der Herr, hört man den Killer aus dem Kopf zitieren. Solange könne er, das Herz beim Morden stets auf dem rechten Fleck, nicht warten und verpasst einem Bösewicht, der seinen Vater, Pastor von Beruf, ermordet auf dem dem Altar liegen ließ, mal eben ein Genickschuss von hinten. Gleich darauf gibt’s wieder was zu lachen.

Am Ende wird der hauptverantwortliche endlich wehrlose Bösewicht, so will es die Gerechtigkeit, sehenden Auges liquidiert; cool: zuvor schießt der geläuterte Killer dem Ex- Diktator ins Knie. Mörderische Schmerzensschreie sowie höllisches Gelächter. Dann zielt der Killer, während er nicht aufhört zu lachen, mit seiner Pistole auf die Stirn, um ihn ganz cool vom Dach eines Hochhauses in den Abgrund zu stoßen. Wunderbar. Endlich ist die Welt wieder in Ordnung. Ausgelassenes Leben, Liebe und Humor triumphieren endlich ganz ohne Gewalt. Wie unterhaltsam. Auch wenn der eine oder andere Action-Experte an der Action-Technik so manches auszusetzen haben mag; nicht nur Jugendliche,  auch im regressierenden Erwachsenen weht ein infantiler Zeitgeist, den der Film mit seinem unterirdischen Humor repräsentiert, durchs Gemüt.

Mein Gott, es ist doch nur ein Film. Muss man ihn so ernstnehmen? Ich denke, sollte man. Denn es ist ein Film, der auf seine Weise den gesellschaftlichen Kontext auf übelste Weise, einer Gehirnwäsche gleichkommend, politisiert. Eine zentrale Funktion kommt dabei, obwohl nur in einer Nebenrolle abgebildet, dem Ex-Diktator zu, der über eine Heerschar mörderischer Spießgesellen verfügt, die sich so vorhersehbar wie willenlos abschlachten lassen. Ihren Anführer möchte der Filmemacher indes genüsslich liquidiert sehen. Wer will sich da noch über die Regime-Changes der Amerikaner aufregen? Kein Problem, mag der Zuschauer denken.

Es gibt leider nur verhaltene Kritik etwa auf “filmstarts.de”, für die der Film, welch messerscharfe Kritik, lediglich ein „haarsträubendes Abenteuer“ ist und eben keine Gehirnwäsche zur zunächst symbolischen Rechtfertigung haarsträubender Abreaktionen, die das Erziehungs- und Beziehungsverhalten immer mehr prägen, resp. die Konflikt- und Beziehungsfähigkeit  untergraben. Es könnte gut sein, dass immer mehr Menschen überfordert reagieren, wenn sie sich in ihrem Alltag mit wirklichen Konflikte konfrontiert sehen, die sich für gewöhnlich eben nicht auf immerzu coole Weise lösen lassen. Hier scheitern immer mehr Menschen sehr real und schmerzhaft. Zu oft bleibt ihnen nur, sich regressiv im Verarbeitungs-Modus der Abreaktion am Kommunikationspartner schadlos zu halten. Halt so, wie Trump sich von Zeit zu Zeit an Menschen und der Welt abreagiert, um sich wohl zu fühlen. Tatsächlich ist der nur die Spitze des Eisbergs.

 

Inxeba Die Wunde (Südafrika/BRD/Fr./NL 2017, Kinostart 14.09.2017)
Regie: Nikolaj Arcel
Besprechung von Franz Witsch
Hamburg, 11.08.2017

Der junge Teenager Kwanda (Niza Jay Ncoyini) vom Stamm der Xhosa, nicht weit von Johannesburg, soll sich dem blutigen Initiations-Ritual, einer Beschneidung am Penis, unterziehen, um in den Kreis der Männer aufgenommen zu werden. So will es sein Vater, obwohl er als Bewohner von Johannesburg mit ländlichen Konventionen und Gewohnheiten nicht mehr viel im Sinn haben dürfte. Allein er glaubt, dass die Beschneidung aus seinem in sich gekehrten, allzu weichen Jungen einen richtigen Mann machen kann. So erklärt er es seinem Neffen Xolani (Nakhane Touré), der Kwanda nach seiner Beschneidung, die eine schmerzhafte Wunde hinterlässt, einige Wochen betreuen soll, bis die Wunde vollständig ausgeheilt ist.

Dabei ist auch Xolani ein nachdenklicher Typ, der sich im Kreis der anderen Betreuer eher unwohl fühlt, über das Initiationsritual zumindest mit gemischten Gefühlen nachdenkt, das er einst selbst über sich ergehen lassen musste; auch weil er schwul ist und Vija (Bongile Mantsai), einen weiteren Betreuer, liebt. Sie müssen ihre Liebe in einer äußerst homophoben Umgebung im Geheimen ausleben.

Rituale haben die Funktion, Gefühle zu kanalisieren, indem sie sie vergegenständlichen, auf sich ziehen, etwa im Falle des Initiationsrituals die Frauen von den Männer mental und räumlich abzusondern, sodass sie von den Männern in einer von Männern dominierten Gesellschaft als prestigeträchtigen Besitz betrachtet werden können.

Allerdings gelten Rituale und Konventionen auf dem Lande durch den Einfluss einer mehr libertären städtischen Lebensweise lediglich in gebrochener Form. Diese bringt der junge Kwanda, selber schwul, in die Gruppe der “angehenden Männer” uneingestanden, kaum merklich ein und trägt damit ein Stück weit, ohne es zu ahnen, zum Gegensatz zwischen Stadt und Land bei, der sich teilweise vielleicht wie folgt beschreiben lässt:

In lediglich gebrochener Form vermag das Ritual schwule Impulse nicht mehr umfänglich und sehenden Auges zu ächten, sodass sie sich auf dem Lande nach dem Model städtischen Lebens einer so indifferenten wie wirksamen Diskriminierung ausgesetzt sehen. Eine kontrollierte, durch ungebrochene Rituale verbürgte Auseinandersetzung mit schwulen Impulsen ist damit ausgeschlossen, bzw. in die Verantwortung des einzelnen, sozial ungebundenen und deshalb komplett überforderten Subjekts gestellt. Das setzt den Schwulen auf dem Lande, wo jeder jeden kennt, noch mehr unter Druck als in der Stadt, wo schwule Impulse leichter im Geheimen ausgelebt werden können, was ihrer Diskriminierung allerdings keinen Abbruch tut, die in Ausdrücken wie “Schwuchtel” etc. zum Ausdruck kommt.

Einen Gefühlsimpuls ritualisiert zu ächten schließt ein, dass man sich mit ihm (noch) auseinandersetzt, ihn in bestimmten Lebensbereichen und zu bestimmten Lebenszeiten akzeptiert, vielleicht sogar rituell praktiziert. Das scheint unter dem Einfluß städtischen Lebens ausgeschlossen. Der schwule Impuls wird umfänglich zu einem kranken und/oder abartigen Impuls, zu einem Gefühl, das mit Schuld aufgeladen wird, weil es auf keinen Gegenstand mehr zu verweisen vermag, es sei denn auf sich selbst. Das könnte vielleicht mikro-faschistische mentale und soziale Strukturen zur Folge haben, die in städtischen Massengesellschaften in den Faschismus münden können, wenn diese ihre Sündenböcke für Prozesse sozial-ökonomischer Verelendung suchen und finden im Bestreben des Einzelnen, im Kontext eines Rituals der Massen schmerzhafte Gefühle endlich einmal uneingeschränkt und ohne Schuldgefühl gegenständlich, am Sündenbock, abzureagieren.

Der Film zeigt, wie mikro-faschistische Impulse unter den drei schwulen Männern entstehen: Der jüngere Kwanda, noch ein Teenager, leidet unter seinen schwulen Impulsen ungleich mehr als sein älterer Betreuer Xolani. Als er diesen mit seinem noch älteren Freund Vija bei der Liebe “erwischt”, brechen Konflikte offen und in der Tendenz unversöhnlich aus. Sie mögen allgegenwärtig sein, auch immer verbunden mit kleinen Gewaltexzessen, die allerdings im Gruppenleben der Männer einer Kontrolle noch zugänglich sind. Diese Kontrolle ist unter den drei schwulen Männern ernsthaft bedroht. Das bringen die Schauspieler auf einfühlsame und anrührende Weise zum Ausdruck. Prädikat: besonders wertvoll!

 

Der Dunkle Turm (USA 2017, Kinostart 10.08.2017)
Regie: Nikolaj Arcel

Kurzbesprechung von Franz Witsch
Hamburg, 05.08.2017
Der elfjährige Jack  (Tom Taylor) soll in die Psychiatrie, träumt er doch ständig von einem schwarzen Mann (Matthew McConaughey), den er zum Entsetzen seiner Eltern für real hält, den er in grau bis schwarz gefärbten Zeichnungen festhält. Er verkörpert für Jack alsbald das ganz und gar Böse. Vielleicht dass er es ist, der die zahlreichen Erdbeben bewirkt? Ohne dass seine Mitmenschen Jack begreifen, stellt sich für ihn heraus: Der schwarze Mann hat, unterstützt von einer Armee von Menschen der ganz fiesen Art, nur eins im Sinn: er will Tod und Terror über die Erde bringen, indem er den dunklen Turm zerstört, der die verschiedenen Welten des Universums, so auch Jacks Erde, im Innersten zusammenhält. Durch geheimnisvolle Portale gelangen fiese Wesen zur Erde, um sich unschuldiger Menschen zu bemächtigen, mit denen sie Böses im Schilde führen. Nur Jack merkt mit seherischen Fähigkeiten, eine Art automatische Gesichtserkennung, dass sie böse Absichten verfolgen. Das versucht er mit Hilfe von Roland (Idris Elba), einem Revolvermann, der wiederum als letzter Kämpfer gegen das Böse einer anderen guten Welt entstammt, zu verhindern. Dazu müssen beide zunächst jede Menge böser Wesen, Menschen zum Verwechseln ähnlich, über die Klinge springen lassen, mit Kugeln aus Schnellfeuer-Revolvern, die über das Herz des Schützen ihre Ziele todbringend erreichen. Klar, dass bei diesem Kampf um Sein oder Nicht-Sein Gefangene nicht gemacht werden. Derweil ahnen die Menschen auf der Erde nicht, dass sie im Geheimen beschützt werden, mein Gott! – nicht einmal, dass sie beschützt werden müssen, geschweige wer ihre Erde am Ende vor dem Untergang bewahrt.

Rock My Heart (BRD 2017, Kinostart 28.09.2017)
Regie: Hanno Olderdissen

Kurzbesprechung von Franz Witsch
Hamburg, 04.08.2017
Ein schöner wie stark anrührender Film, nicht auf die “billige” Art, der jede vergossene Träne wert ist; den Schauspielern sei es gedankt. Ausgesprochen präsent: Dieter Hallervorden als greiser Rennpferd-Trainer (Paul) und Anna Lena Klenke als junges herzkrankes Mädchen (Jana), das sich gegen jede Vernunft von Paul zum Jockey ausbilden lässt, um ein anstehendes Galopprennen bestreiten zu können, vor allem aber zu gewinnen.
Weder besorgt-hysterischen Eltern wissen etwas von Janas lebensgefährlichem Training noch weiß Trainer Paul, dass Janas Leben beim Training auf dem Spiel steht. Ihren nicht weniger herzkranken Freund Samy (Emilio Sakraya) setzt sie allerdings ins Vertrauen.
Insgesamt sind Qualität und Unterhaltungswert des Films hoch, weil Konflikte nicht rührselig glatt gebügelt, sondern ausgetragen werden. Ins Bild passt, dass der Film ohne uneingeschränktes Happy-End auskommt; sodass Kinder sich emotional und geistig in Anspruch genommen fühlen und, last not least, Erwachsene endlich mal ohne schlechtes Gewissen ihre Gefühle ausleben können.

Das ist unser Land (Fr/Bel 2017, Kinostart 24.08.2017)
Regie: Lucas Belvaux

Kurzbesprechung von Franz Witsch
Hamburg, 27.07.2017
Der Film beschreibt soziale Strukturen, welche die in sie involvierten Helden und Heldinnen in massive Konflikte zueinander bringen, ohne dass sie diese recht begreifen. Das schließt ein, dass sie die Konflikte zwar realistisch in sich heraufziehen und auf sich zukommen sehen, indes ohne in sich stimmige Strategien der Konfliktlösung verinnerlicht zu haben.
Das Problem besteht vermutlich darin, dass sich alles auf der Ebene der Gefühle abspielt, ohne dass den Figuren klar wird, dass das allein nicht ausreicht; zunächst um Konflikte innerlich zu verarbeiten, um sich sodann auf dieser Grundlage um sozialverträgliche Lösungen zu bemühen. Das trifft beispielhaft auf den Konflikt zu, den Pauline (Émilie Dequenne), leidenschaftlich Krankenschwester und Mutter zweier Kindern, mit ihrem Vater Jacques (Patrick Descamps) austrägt.
Vater Jacques blickt auf eine kommunistische Vergangenheit zurück. Als Pauline ihm beichtet, dass sie sich vor den Karren einer rechtspopulistischen Partei hat
spannen lassen, regt er sich mächtig auf. Allein er regt sich “nur” auf. Zwischen Tochter und Vater prallen wildfremde Welten aufeinander, die beide versuchen, im Gefühl
gleichzuschalten. Ein wirklicher d.h. unaufgeregter Austausch findet nicht statt. Das erforderte analytische Substanz, die allein nur im Austausch von Gefühlen nicht aufgeht. Auf diese sind die Figuren reduziert, ohne zu gewahren, dass sie in soziale Strukturen involviert sind, die zu analysieren sie nicht gelernt haben. Sie werden als gegeben hingenommen; Konflikte in ihnen ausschließlich einzelnen Subjekten, dem Bösen in ihnen, zugeschrieben. Das  ist exakt das, was überfordert. Das zeigt der Film nicht explizit. Aber er ist auf diese Weise interpretierbar; deshalb äußerst sehenswert.

Die beste aller Welten (Österreich/BRD  2017, Kinostart 28.09.2017)
Regie: Adrian Goiginger
Kurzbesprechung von Franz Witsch
Hamburg, 25.07.2017
Der Film beschreibt soziale Strukturen extremer Verwahrlosung aus dem Drogenmilieu, für das es  Hilfseinrichtugen gibt, die indes nur begrenzt weiterhelfen. Alle Beteiligten sind überfordert. Mittendrin ein siebenjähriger Junge (anrührend: Jeremy Miliker) mit seiner drogensüchtigen (alleinerziehenden) Mutter (Verena Altenberger). Man mag sich fragen: wer hier wen vor dem Schlimmsten bewahrt? Der Junge seine Mutter oder die Mutter ihren Jungen.

The Circle (USA/VAE  2017, Kinostart 07.09.2017)
Regie: James Ponsoldt
Kurzbesprechung von Franz Witsch
Hamburg, 25.07.2017
Der Film zeichnet die Schattenseiten der Totalüberwachung durch das Internet leider nur  holzschnittartig nach und verspielt damit allzu fahrlässig ein wichtiges Thema. Vermutlich ist Tom Hanks (Hauptdarsteller und Produzent) dem Thema nicht gewachsen. Recht unterhaltsam sein letzter Satz: “Wir sind am Arsch”.

hlen Sie sich manchmal ausgebrannt und leer?
(BRD/Niederl. 2017, Kinostart 19.10.2017
)
Regie: Lola Randl
Kurzbesprechung von Franz Witsch
Hamburg, 19.07.2017
Komödie um eine Therapeutin (Lina Beckmann), die ihren Mann (Charly Hübner) betrügt. Das macht sie mithilfe einer Doppelgängerin, die plötzlich wie aus dem Nichts auftaucht. Mit ihr zusammen ergeben sich allerhand Irritationen; ha, ha,.. Komödie geht anders; so auf keinen Fall: Sie und ihr Geliebter speisen in einem Restaurant. Er, gerade geil, möchte ihr auf Toilette sein Sperma ins Gesicht spritzen. Sie stimmt etwas pikiert zu. Frauen sind ja so anders, fast wie Männer. Nur eine von vielen dämlichen Sequenzen, die den Film nervenaufreibend in die Länge ziehen. Beim Abspann lässt, oh Wonne, der Schmerz  nach. Mir unerfindlich, wie man an diesem Film etwas gut finden kann. Die schnellen Wechsel und Verwicklungen, so www.Kino-Zeit.de, seien hervorragend inszeniert.

Dunkirk (USA/GB/Frankr. 2017, Kinostart 27.07.2017)
Regie: Christopher Nolan

Kurzbesprechung von Franz Witsch
Hamburg, 19.07.2017
In “Dunkirk”, zu deutsch “Dünkirchen”, möchte Nolan
wie damals schon Steven Spielbergs “Saving Private Ryan” (1998) – dem Zuschauer bedeuten, dass die Welt ohne den “guten” Soldaten schlechter aussehen würde. Die Fakten sprechen in der Tat eine deutliche Sprache: Es wäre geradezu abenteuerlich zu leugnen, dass Nazis und faschistische Japaner ohne große Kriegsanstrengungen besiegt worden wären. Dafür sei den Amerikanern, Engländern und Russen gedankt. Doch muss man gerechte Kriege in einer historischen Ausnahmesituation in allzu pathetischen Bildern erzählen? “Dünkirchen” von Paul Dufour und Henri Verneuil aus dem Jahr 1964 mit Jean-Paul Belmondo in der Hauptrolle, der die gleiche historische Geschichte wie Dunkirk erzählt, hatte es nicht nötig, den Zuschauer mit großen Gefühlen aus dem Kino zu entlassen. Das machte den Film interessant; weil er mit seinem gebrochenen, fragwürdigen Helden die analytischen Fähigkeiten des Zuschauers belebte. Das leisten die heutigen Kriegsfilme (übrigens auch Actionfilme ganz generell) gar nicht mehr. Lieber produziert man mit aller Gewalt in realitätsnahen Bildern (so viel Technik muss sein) die gleichwohl realitätsblinde Vorstellung von einem heldenhaften Soldaten, der sich für eine bessere Welt opfert. Und warum? Um heutige Kriege in einem humanen Licht erscheinen zu lassen.

rper und Seele (Ungarn 2017, Kinostart 21.09.2017)
Regie: Ildikó Enyedi

Kurzbesprechung von Franz Witsch
Hamburg, 12.07.2017
Auf der Suche nach Liebe geht die Autistin Mária (Alexandra Borbély) gewissenhaft, ja strategisch vor, so wie sie ihre alltägliche Arbeit in einer Fleischfabrik zunächst erlernt hat, um sie dann übergenau zu bewältigen. Am Ende gelingt ihr ein liebevoller Zugang zu Endre (Morcsányi Géza). Wie, das zeigt die Filmemacherin fehlerlos und deshalb auf extrem berührende Weise. Man könnte meinen, der Berlinale-Gewinner erzählt die Geschichte einer Rekonstruktion eines Gefühls, wie um zu zeigen: es gibt einen Unterschied zwischen Empathie und Gefühl. Das empathische Interesse (zu...) braucht das “Fühlen” nicht, schon gar nicht das große rührselige Gefühl, kann indes Gefühle, etwa in Gestalt von Zuneigung zu einem anderen Menschen, nach sich ziehen, während Gefühle zu Menschen – wie in unserer Gesellschaft üblich und “politisch gewollt” – ganz ohne empathische Fähigkeiten erzeugt werden können, sodass sie nicht nachhaltig positiv erlebt werden, etwa wenn sie sich in Gleichgültigkeit oder Hass und Gewalt verwandeln.

Terminator 2 im 3D-Format (USA 1991, Kinostart 29.08.2017)
Regie: James Cameron

Kurzbesprechung von Franz Witsch
Hamburg, 10.07.2017
Der Kultfilm “Terminator 2”, gedreht 1991, kommt in restaurierter Form, zudem in 3D neu in die Kinos. Nicht nur technisch setzte er Maßstäbe; auch inhaltlich nahm er die heutige Zeit vorweg; dies zu einem Zeitpunkt,  als man kurz nach der Wende auf friedlichere Zeiten hoffen durfte. Welch ein Irrtum: Heute leben wir im permanenten Ausnahmezustand, in dem rechtsstaatliche Werte immer mehr unter die Räder kommen. Dafür regiert man ohne Sinn für problemorientierte Analyse auf der Basis von Instinkten und Gefühlen die Welt. Die ist eigentlich ganz ok, wenn es das Böse nicht gebe. Mit dem Feind bekommt der Tag Struktur. Den gilt es zu terminieren,  mit Mord und Totschlag – wie sonst?, im Film ästhetisch in Szene gesetzt, begleitet von Rührseligkeiten, um in einer Art Gehirnwäsche wachsende Gewaltbereitschaft im Gemüt des Zuschauers zu verankern. Der weiß am Ende nicht wie ihm geschieht; völlig besoffen findet der den Film einfach nur hervorragend.

Paris barfuß (Frankreich 2017, Kinostart 07.09.2017)
Regie: Dominique Abel und Fiona Gordon

Monsieur Pierre geht Online (Frankr/Bel 2017, Kinostart 22.06.2017)
Regie:  Stéphane Robelin

Kurzbesprechungen von Franz Witsch
Hamburg, 03.07.2017
Zwei Komödien mit Pierre Richard: Paris barfuß schleppt sich mit skurrilen Momenten etwas zu aufdringlich putzig dahin, nicht richtig zum Lachen, anstrengend: Fiona (Fiona Gordon), eine in die Jahre gekommene Kanadierin, sucht in Paris ihre fast neunzigjährige Mutter (Emmanuelle Riva) und trifft dabei auf einen Obdachlosen (Dominique Abel), der ihr bei der Suche keine rechte Hilfe ist, der ein wenig so aussieht wie Pierre Richard, der in diesem Film nur in einer Nebenrolle etwas blöde aus der Wäsche schauen darf. In
Monsieur Pierre geht Online darf er das nach Herzenslust, sehr unterhaltsam, so wie man ihn in jungen Jahren, z.B. in Der große Blonde mit dem schwarzen Schuh, kennt. Hier spielt er einen greisen Schwerenöter, zunächst wider Willen, eine Rolle, an der er allerdings bald Geschmack findet, und von der er – zum staunenden Leidwesen seiner Umgebung – nicht mehr loskommt.

Leanders letzte Reise (BRD 2017, Kinostart 21.09.2017)
Regie: Nick Baker-Monteys

Kurzbesprechung von Franz Witsch
Hamburg, 20.06.2017
Vergangenheitsbewältigung der richtig guten Art eines 92-jährigen ehemaligen deutschen Wehrmachtoffiziers (Jürgen Prochnow) auf seiner Reise durch die Ukraine zusammen mit seiner Enkelin (Petra Schmidt-Schaller), die sich ihm aufdrängt. Extrem anrührend ohne die Spur von Rührseligkeit. Hervorragend nicht nur Dank Jürgen Prochnow. Unbedingt sehen!

Sieben Minuten nach Mitternacht
(GB/Spanien/USA/Kanada 2016, Kinostart 04.05.2017)
Regie:
Juan Antonio Bayona
Filmbesprechung von Heinz-Jürgen Rippert
Hamburg, 17.05.2017

Eine überwältigende Fantasy-Geschichte des Spaniers Juan Antonio Bayona, der auf die Romanvorlage und dem Drehbuch von Patrick Ness zurückgreift. Ein Glücksgriff, düster und sehr bewegend. Der 13jährige Conor O'Malley, ein stiller, kreativer Außenseiter wird bald seine krebskranke Mutter verlieren. Da wird eines Tages eine uralte Eibe lebendig und hilft ihm. Coming-of-Age-Film - ungewöhnlich und unter die Haut gehend.

Die nordenglische Landschaft wirkt ruhig und beschaulich, aber ist im Untergrund dagegen alles andere als das. In diesen Gegensatz zwischen Idylle und Urgewalt rutscht der kleine Conor O'Malley (Lewis MacDougall). Er weiß es nur noch nicht. Der 13jährige Schüler ist ein stiller, kreativer Junge, der unter Mobbing seiner Mitschüler leidet, dessen Vater in Kalifornien lebt, und der bald seine Mutter (Felicity Jones), bei der er noch wohnt, verlieren wird. Sie ist unheilbar an Krebs erkrankt. Conor muss zu seiner strengen Großmutter (Sigourney Weaver) ziehen, nachdem seine Mutter im Krankenhaus liegt.

Plötzlich wird Conors Leben durch ein einschneidendes Erlebnis durcheinander gewirbelt.

ine uralte Eibe wird lebendig. Jetzt bewegt sich die Geschichte in ein Fantasy-Märchen, das kann gutgehen, oder auch nicht. Hier können wir uns auf ein aufregendes, packendes und unter die Haut gehendes Erlebnis einlassen. Es lohnt sich. Besonders auf einer großen Leinwand.

Alles berstet, kracht und brennt, wenn das Baum-Monster auf Conors Fenster zukommt. Die Originalstimme stammt übrigens von Liam Neeson. Conor fragt ihn, was er eigentlich von ihm wolle. Anders herum, antwortet die Eibe. Der Junge will etwas von ihm. Nämlich drei Geschichten, jeden Tag eine, Geschichten vom Leben und wie man damit zurecht kommt. Die vierte Geschichte muss Conor erzählen – und zwar die Wahrheit.

Lehrreiche Parabeln sind das – Coming-of-Age auf gänzlich andere Art. Conor auf einer großen emotionalen Achterbahn, ständig mit seinen Ängsten und seiner Verzweiflung konfrontiert – aber dem eigenen Selbst immer näher kommend. Die alte Eibe – längst ein vertrauter Freund – gibt ihm den nötigen Halt, um seinen inneren Frieden zu erreichen: Endlich loszulassen oder die Versöhnung mit dem unausweichlichen Tod anzunehmen.

Herzzerreißend und fesselnd wird dies erzählt. Sehenswert.

 

Zu guter Letzt (USA 2017, Kinostart 13.04.2017)
Regie:
Mark Pellington
Filmbesprechung von Heinz-Jürgen Rippert
Hamburg, 08.05.2017

Shirley-McLaine-Fans und Verehrer dürften sich freuen. Die große Actrice zieht es wieder einmal auf die Leinwand. Und das dürfte das einzig Positive sein, das „Zu guter Letzt“ zu Gute kommt. Das Muster der Dramaturgie wird schnell deutlich. Es ist wie ein Spaziergang am Meer, die Wassertemperatur ist angenehm, aber es ist sehr flach. Tiefgang ist bedauerlicherweise weit und breit nicht vorhanden. Mark Pellingtons („Arlington Road“) neues Werk tut zumindest niemandem weh. Nette Unterhaltung für die derzeitigen kühlen Abende.

Von alten Männern, die misanthropisch geworden einsam in ihrer Hütte wohnen, ist schon oft genug erzählt worden. Irgendwann öffnet sich doch sein Herz. Also kein schlechter Mensch. Dieser Fisch ist also längst gelutscht, wie man so schön im Norden sagt.

Eine Frau für solch eine Rolle besetzen, ist demnach keine schlechte Idee. Filme dieser Art sind noch eher eine Rarität. Und Shirley McLaine in der Hauptrolle – da kann eigentlich nichts schiefgehen. So war das Stück geplant.

Doch herausgekommen ist außer dem guten Willen – nichts Mitreißendes, keine innere Spannung, Übertreibungen, abseitige Dialoge, nur ab und zu ein Highlight und die Vergeblichkeit von Amanda Seyfried, gegen ihre charismatische Partnerin Boden gut zu machen.

McLaine verkörpert eine ehemalige, erfolgreiche Geschäftsfrau, die eine Werbeagentur betrieb. Jetzt ist Harriet Lauler gealtert, alleine lebend, ein Biest ohnegleichen, das noch zu ihren Lebzeiten ihren Nachruf fertig haben will. Angemessen versteht sich. Einfach der optimale Nachruf. Ihr Problem: Niemand ist bereit, etwas positives beizusteuern. Sogar ihre erwachsene Tochter Elizabeth (Anne Heche) nicht. Keiner, auch der Gärtner nicht. Also engagiert sie die junge Journalistin Anne (Amanda Seyfried) dafür. Die etwas verzagte Nachwuchs-Autorin hat natürlich auch nichts zu lachen.

Jetzt schleicht sich das Wunder ein. Es muss ja irgendwie kommen. Harriet wandelt sich allmählich, sukzessive von der verbalen Giftspritze in eine umgängliche Frau, die sich für ein kleines, afroamerikanisches Mädchen einsetzt und einen Job als DJane für einen kleinen Soulsender annimmt – natürlich ohne Bezahlung. Musikbegeisterte, die ein paar Dollar brauchen, haben das Nachsehen.

Die positiven Wendungen gegen Schluss wirken aufgesetzt und unglaubwürdig. Einzig Fans von analogen Plattenspielern werden ihre Freude haben. Da weiß man, was man hat.

 

Gimme Danger (USA 2016, Kinostart 27.04.2017)
Regie:
Jim Jarmusch
Filmbesprechung von Heinz-Jürgen Rippert
Hamburg, 04.05.2017

In der internationalen Rock-Szene gibt es nicht mehr viele Musiker, die bis jetzt überlebt haben. Ein gewisser James Osterberg gehört dazu. Der Name wird vielleicht nicht jedem etwas sagen – dagegen der Künstlername Iggy Pop schon etwas mehr. 1967 sorgte das musikalische Enfent Terrible für den grossen Knall – die Geburtsstunde des Punk. Jim Jarmusch,  Liebling der Independent-Filmfans, hat diesem, inzwischen 70-jährigen Getriebenen, ein filmisches Denkmal gesetzt.

Die Beiden kennen sich schon lange. Iggy Pop hat bereits zwei Kurzauftritte in Jarmuschs „Coffee and Cigarettes“ und „Dead Man“ absolviert. Nun wird er in dem Doku-Projekt „Gimme Danger“ porträtiert. Das ist als Gespräch mit eingebauten Konzert-, privaten Mitschnitten und Interviews konzipiert.

Iggy Pop kann jovial plaudern, mit seiner recht knarzigen Stimme unterhalten. Langweilig ist das nicht, es wirkt gelassen. Besonders weil er so viele Anekdoten kennt. Der Mann aus Michigan, in einer Wohnwagensiedlung groß geworden, hat schon früh für Unruhe in der Umgebung gesorgt – mit seinem Schlagzeug.

Später orientiert er sich in Chicago an den großen Blues-Virtuosen. Alles für seine musikalische Basis, Neugierde und das entsprechende Feeling sind wichtig gewesen. Aber Neugierde und der Drang, etwas vollkommen neues zu kreieren, führen zu einer Haltung, die noch keiner wahrgenommen hat. Mit seiner neuen Band den „Stooges“ verwirrt und stimuliert er das Publikum.

Der nackte Oberkörper wird zum Markenzeichen des Herrn Osterberg, den kann er winden, biegen, wie eine Schlange. Er hüpft, tanzt ganz wild und stürzt sich von der Bühne in die Menge. Entsprechend wild und laut ist auch die Rockmusik von den Stooges. Diese Art ist als revolutionär zu bezeichnen, für die 60er Jahre jedenfalls. Dazu kommt vermehrt der Drogenkonsum – alles was es so gibt. Das führt zu zeitweiligen Trennungen der Band.

Aber Geld ist für sie gar nicht so wichtig gewesen. Davon erzählt der mittlerweile alte Herr gelassen und entspannt. Manche Alben haben sich auch ganz gut verkauft. Mit seinen Kollegen hat er immer recht gut zusammenarbeiten können.  Er mag es, im Team zu arbeiten. Und beeinflusst haben sie schließlich die ganze Punkbewegung.

Ein interessantes, lebendiges Zeitdokument ist Jarmuschs Film geworden. Auf der einen Seite die Hippie-Musik – auf der anderen Seite die harten Gegenschläge der Stooges. Nur vereinnahmen will sich James Osterberg alias Iggy Pop von niemandem. Trotzdem sind sie irgendwie Kommunisten gewesen, betont er, zumindest einige Jahre. Sie hätten immerhin damals alles miteinander geteilt.

 

The Founder (USA 2016, Kinostart 20.04.2017)
Regie:
John Lee Hancock
Filmbesprechung von Heinz-Jürgen Rippert
Hamburg, 02.05.2017

John Lee Hancock ist bekannt für seine Aufsteiger-Geschichten im US-Kapitalismus. In seinem neuen Werk erzählt er vom rasanten Erfolg des Hamburger-Grillers McDonald's in den 50er-Jahren. Mit dem Unterschied allerdings, dass die Kehrseite des sogenannten amerikanischen Traums nicht außer acht gelassen wird und dies mit einer satten Portion Sarkasmus. Der rastlose Handlungsreisende Ray Kroc mit dem unstillbaren Hunger nach Geld und Erfolg wird von Michael Keaton verkörpert.

Der passende Film zum Amtsantritt von Donald Trump. Dafür musste Harvey Weinstein die US-Premiere gleich viermal verschieben.

Es geht schließlich um einen ökonomischen Leuchtturm des American Way of Life, um den Hamburger-Griller McDonald's. In der Tat heißen die Hamburger-System-Erfinder Dick und Mac McDonald, die im kalifornischen San Bernadino ein hocheffizientes Bratsystem entwickelt haben. Zwei Tüftler, die ein beinahe industrielles Zubereitungsverfahren auf wenige Quadratmetern konzentrieren. Deshalb kann der Kunde in kürzester Zeit seinen eingepackten Hamburger mitsamt Pommes Frites und Softdrinks genießen. Die Qualität muss dabei immer gewährleistet sein. Der Begriff Fast Food ist geboren. Und die Kunden sind begeistert, haben sie doch bis dahin Barbeque oder andere Spezialitäten nur mit langen Wartezeiten konsumieren können. Hier dauert das 30 Sekunden pro Kunde.

Wir befinden uns mit den fünfziger Jahren in der Hochphase des Nachkriegskapitalismus. Die steigende Gier nach mehr Geld, Erfolg und Konsum treibt Menschen um. Einer dieser Umtriebigen ist der Milchshake-Mixer-Vertreter Ray Kroc. Einer der ständig grinst, was auf Dauer nervt. Aber einer, der trotz seiner Rührigkeit keinen Erfolg mit den Mixern hat.

Plötzlich wird er hellwach, eine Bestellung von gleich mehreren Geräten erreicht ihn aus Kalifornien. Nichts wie hin, denkt Ray Kroc und staunt nicht schlecht über den Andrang am Schnellimbiss der McDonalds Brüder. Fiebrigkeit überall, bei den Machern und den Konsumenten. Und ausgeklügelte Effizienz. Da fehlt noch etwas Wichtiges – der perfekt gemanagte Vertrieb. Kroc hat schon eine Idee: Franchise. Damit kann man national wie international expandieren. Nur gehen Dick und Mac McDonald Risiken lieber aus dem Weg, zu bodenständig sind sie und zu bedächtig. Das lässt Ray Kroc die Franchising-Rechte an sich zu reißen und für sich zu sichern. Endlich steht der ganz große Coup vor der Tür, dem er sein Leben hinterher gerannt ist.

Wenn man vielleicht anfangs noch ein wenig Sympathie für den strampelnden Handels-Vertreter übrig hat, so ändert sich das nun mit der Verwandlung in einen skrupellosen, zwielichtigen Scharlatan. Die McDonalds-Brüder steigen ab zur Bedeutungslosigkeit. Wenigstens ihr Name bleibt noch über dem weltumspannenden Fast-Food-Imperium.

Der Gipfel der Großmannssucht  ist die Titulierung „The Founder“, den Ray Kroc sich gegeben hat. Gründer ist nicht er, sondern nach wie vor Dick und Mac McDonald. Der Sarkasmus des Films ist eben das Sprachmittel, das den brutalen Wirtschaftsdarwinismus des amerikanischen – expandiere oder verrecke – Systems am besten pointieren kann.

 

Ein Dorf sieht schwarz (Frankreich 2016, Kinostart 20.04.2017)
Regie:
Julien Rambaldi
Filmbesprechung von Heinz-Jürgen Rippert
Hamburg, 28.04.2017

Sympathische Culture-Clash-Komödie aus Nordfrankreich. Ein kleines Dorf sucht in den 70er Jahren verzweifelt einen Arzt. Seyolo Zantoko, ein frischgebackener Arzt aus Zaire, der in Lille studiert hatte, erklärt sich bereit dazu. Wenn die verbohrt-konservativen Einwohner nur nicht wären. Der tägliche Rassismus ist das größte Hindernis für eine breite Akzeptanz. Wie die afrikanische Familie die Alltagstücken allmählich überwinden kann, erzählt der Film auf humorvolle Art, kurzweilig, aber leider immer noch aktuell und auf tatsächlichen Ereignissen beruhend.

Seyolo Zantoko hat sein Medizin-Examen bestanden und sucht eine Praxis in Frankreich. Das Angebot, in seiner Heimat Zaire als Leibarzt für Mobutu zu arbeiten, lehnt er entrüstet ab, zu korrupt sei der Präsident und als grausamer Diktator verschrien. Da bekommt er auf der Abschlussfeier an der Uni Lille von einem Dorfbürgermeister die Offerte, als Landarzt im Norden Frankreichs zu arbeiten.

Besser als nichts, denkt er und sagt zu. Seiner Familie, die immer noch in Zaire wohnt, erzählt Seyolo, Paris würde gar nicht so weit entfernt sein. Sie sollen ja nachkommen, und seine Frau denkt an ein mondänes Leben in der französischen Hauptstadt.

Das Problem: Die Dorfbewohner haben noch nie einen Schwarzen gesehen. Außerdem gibt es dort mehr Kühe als Menschen. Dem Bürgermeister ist das egal, Hauptsache, er kann seinen Mitbürgern einen leibhaftigen Doktor präsentieren. Natürlich hätte er sonst bei der baldigen Bürgermeisterwahl keine Chance mehr.

Ein weiteres Problem: Seyolos Familie erlebt den totalen Culture-Clash. Seine Frau und die beiden Kinder kommen bei strömenden Regen an. Die graue Tristesse schockiert. Und der Eiffelturm ist auch nicht in der Ferne zu sehen. Die ganze Malaise wird schließlich von der Fremdenfeindlichkeit, dem Rassismus getoppt.

Da sind zum einen die Vorurteile, Mißverständnisse, die Intoleranz und Klischees, mit denen Regisseur Julien Rambaldi spielt, getreu der Rezepte für abendfüllende Komödien, die in den letzten Jahren auch hierzulande Kasse gemacht haben. Alles etwas süß angerührt und schließlich sind die sturen und fremdenfeindlichen Bauern doch auch mit einem gutmütigen Herzen ausgestattet.

Es ist natürlich positiv, auf Humanismus zu pochen und dem eine Chance zu geben. Wenn man die Welt real so inszenieren könnte. Die Handlung dieses Films beruht tatsächlich auf den Erinnerungen von Seyolo Zantokos Sohn Kamini, der sich als Rapper einen Namen gemacht hat.

Aber schaut man heute auf  Wahlergebnisse, insbesondere bei den letzten Regionalwahlen in Nordfrankreich, so wird einem bei 40 Prozent für den rechtsextremen Front National doch etwas anders zumute.

 

Verleugnung (GB/USA 2016, Kinostart 13.04.2017)
Regie:
Mick Jackson
Filmbesprechung von Heinz-Jürgen Rippert
Hamburg, 25.04.2017

Der britische Journalist David Irving gehört zu den schlimmsten Holocaust-Leugnern, Geschichtsklitterern, Rassisten und Antisemiten. Bei Neonazis im In- und Ausland nach wie vor als Redner und Autor willkommen, „Fake News“ lassen grüßen, versuchte er Ende der 90er Jahre die US-Historikerin Deborah E. Lipstadt in einem Verleumdungsprozess zu diskreditieren. Der Justizfilm von Mick Jackson hält sich überwiegend an den Prozessverlauf und produziert daraus die Spannung. Mit Rachel Weisz, Timothy Spall und Tom Wilkinson erstklassig besetzt.

Deborah E. Lipstadt ist Professorin für Jüdische Zeitgeschichte an der Emory University in Atlanta/Georgia und hat in ihrer Veröffentlichung „Denying the Holocaust“ David Irving als authentischen Holocaust-Leugner bezeichnet. 1994, während einer Vorlesung von Lipstadt, die sich mit der Leugnung des Holocaust beschäftigt, hat sie ihre Abneigung gegen jegliche Gespräche mit solchen Leugnern zum Ausdruck gebracht. Da erhob sich ein Mann im Auditorium, hält ein Bündel Geldscheine in der Hand und stellt als David Irving vor. Er würde demjenigen, der Beweise für Vernichtung in Gaskammern liefert, 1000 Dollar überreichen. 

Die Historikerin lehnt angewidert jegliche verbale Auseinandersetzung ab und bekommt eine dreiste Verleumdungsklage von Irving an den Hals, der Penguin Verlag mit Hauptsitz London gleich mit. Da er die Klage in Großbritannien einreicht, läuft der Prozess nach britischen Verfahrensrecht ab. Deshalb ist Deborah Lipstadt beweispflichtig und nicht umgekehrt, wie es unter anderem in den Vereinigten Staaten üblich ist. Sie muss demnach beweisen, dass Auschwitz und die Shoah Fakten sind. Eine große Demütigung für Lipstadt. Und ein Prozess, der sich über vier Jahre hinzieht – von 1996 bis 2000.

Anmerkung dazu: Das Aufeinandertreffen von Irving und Lipstadt in Atlanta ist aus dramaturgischen Gründen rein fiktiv von Autor David Hare in die Handlung eingebaut worden. Die tatsächliche Klage beruht alleine auf der Veröffentlichung und der darin enthaltenen Einschätzung Irvings durch die Wissenschaftlerin.

Der Film dreht sich hauptsächlich um die Gerichtsverhandlung. Ein Justizdrama also, vor allem eines mit einem gänzlich anderen System. Dort arbeiten zwei Anwaltsgruppen getrennt voneinander – die beratenden und die prozessführenden Anwälte. Deborah Lipstadt soll eigentlich gar nicht auftreten, KZ-Überlebende auch nicht. Der leitende prozessführende Anwalt, Richard Rampton (Tom Wilkinson) genießt damals den Ruf des führenden Spezialisten für Verleumdungsklagen. Er sieht sich gezwungen, nachzuweisen, dass tatsächlich Gas in Auschwitz verwendet wurde. Irving (Timothy Spall) tönte immer, „No Holes, no Holocaust“. Er hat übrigens auf einen Anwalt verzichtet und den Prozess verloren.

Die Filmemacher um Mick Jackson haben für die Dialoge akribisch die Prozessakten ausgewertet. Den Spannungsbogen bauten sie dadurch auf. Und sie vertrauten auf das gute Timing der Darsteller. Timothy Spall ist eine gute Wahl für den mit allen Wassern gewaschenen Pseudo-Historiker David Irving, der sich als das eigentliche Opfer stilisiert. Tom Wilkinson hat durch seine besonnene, aber auch derbe Art die notwendigen Impulse als Richard Rampton geben können. Und Rachel Weisz als lebhafte, intellektuelle Deborah E. Lipstadt.

Wenn sie uns doch die Protagonisten vielschichtiger präsentiert hätten. Über sie selbst erfahren wir leider kaum etwas. Dennoch wird uns klar, was passiert wäre, wenn Lipstadt verloren hätte. Da ist das Urteil, besonders in Zeiten der Faktenverdreher, und -leugner, sehr bedeutsam. Historische Wahrheiten kann man nicht unter den Teppich kehren. Sie wirken wie ein Spiegel, in dem man sich immer wieder sieht.

 

Una und Ray (Kanada/GB/USA 2016, Kinostart 30.03.2017)
Regie:
Benedict Andrews
Filmbesprechung von Heinz-Jürgen Rippert
Hamburg, 21.04.2017

Ein Mädchen, 13 Jahre alt, und eine junge Frau, 15 Jahre später. Ein und dieselbe Person. Und ein Mann, über 20 Jahre älter. Sie sehen sich eines Tages wieder und nichts ist wie es vorher war. Es beginnt ein zweifelhafter Versuch, die  Vergangenheit aufzuarbeiten. Geht es um  Missbrauch oder nicht? Wann sind die Grenzen der Moral überschritten? Der Zuschauer gerät langsam ins Zweifeln. Ihm wird es auch nicht leicht gemacht, das Drama einzuordnen.

Una, eine junge Frau um die Anfang 30 (Rooney Mara), wohnt immer noch bei ihrer Mutter, hat keine feste Beziehung, geht ab und zu mal tanzen und lebt ihre Sexualität allerhöchstens mal bei einem Quickie auf der Toilette aus. Aber da ist noch etwas, da quält sie noch etwas. Ihre Unruhe treibt sie eines Tages zum Aufbruch, ohne etwas zu sagen oder zu hinterlassen.

Sie trifft in einer Fabrik überraschend auf einen Mann in den Fünfzigern, der sich heute Peter nennt, eigentlich Ray hieß (Ben Mendelsohn) und als leitender Angestellter tätig ist. Peter ist verunsichert, die Fassade fängt an zu brökeln. Denn vor 15 Jahren sind sie Nachbarn gewesen und in ein Tabu geschlittert, das sich auf das ganze Leben auswirken kann. Ray hat sie verführt, oder ist er verführt worden? Soll man Sex mit Minderjährigen dazu sagen, vielleicht doch eine Liebesbeziehung? Gefühle scheinen durchaus eine Rolle zu spielen, oder doch nicht?

Zumindest haben sie ihre Träume gehabt, machten sich auf den Weg, eine Flucht ins Nirgendwo. Die für Una zumindest in einem Motel endet. Ray hat sie dort sitzengelassen. Welch ein Leid für ein 13-jähriges Mädchen. Ihre Gefühle konnte sie bis heute nicht ordnen und Ray ist verhaftet worden mit anschließender vierjähriger Gefängnisstrafe.

Dann hat er sich einen anderen Namen gegeben, eine neue berufliche Existenz aufgebaut und geheiratet, ist Vater geworden. Und die Familie weiß nichts von seiner Vergangenheit, die Ray nun wieder einholt. Seine Mitarbeiter in der Fabrik dürfen ebenfalls nichts davon wissen. Die Auseinandersetzung zwischen Una und Ray muss aus diesem Grund jeweils in andere Bereiche der Firma verlegt werden, die wie ein großes Labyrinth anmutet, verwirrend wie die emotionale Situation der Protagonisten. Und als Metapher für Rays Versteck.

Aus dem er nun raus muss, genau wie Una aus der Häuslichkeit ihrer Kindheit in der heimischen Sackgasse, in der sie 30 Jahre wohnte. Beide müssen sich der Vergangenheit stellen. Im Gegensatz zur Theatervorlage, einem reinen Kammerspiel, hat der australische Regisseur Benedict Andrews sein filmisches Psychodrama immer wieder durch kurze Rückblenden erweitert, um den Kern besser herausarbeiten zu können. Ein Vorteil, den er geschickt zu nutzen wußte.

 

Nachruf auf Kameramann Michael Ballhaus
Von Heinz-Jürgen Rippert
Hamburg, 18.04.2017

Der legendäre Kameramann Michael Ballhaus ist tot. Er gilt als Erfinder des „Ballhaus Kreisels“, führte eine bewegliche, lebendige Kameraufnahmetechnik in die Filmkunst ein, drehte mit Rainer Werner Fassbinder, Peter Lilienthal, John Sayles, Martin Scorsese, Francis Ford Coppola und war einer der wenigen Deutschen, die sich in Hollywood etablieren und Karriere machen konnten. Nun ist der Filmkünstler, wie er sich selbst bezeichnete, im Alter von 81 Jahren nach kurzer Krankheit am 12. April in Berlin gestorben.

Seine fantastische Bildsprache hat Michael Ballhaus im Laufe seiner Karriere entwickelt und sah sich deshalb mehr als Filmkünstler, denn als Kameramann. Für ihn war die Regie der Bild- und Lichtführung das gestaltende Element der Filmkunst schlechthin. Deshalb konnte er sich als das „fliegende Auge“ einen weltweit geachteten Namen machen.

Das kam nicht von ungefähr. Denn die Basis seiner Kenntnisse, Erfahrungen, visuellen Einschätzungen und Ideen hat Ballhaus schon früh und solide geschaffen. Seine Eltern hatten in Franken ein Theater und agierten als Bühnenschauspieler. Eine Chance für den damaligen Schüler, sich als Bühnenfotograf auszuprobieren.

Nach dem Abitur folgte eine Fotografenausbildung und dann der Sprung zum Südwestfunk, wo er zum Chefkameramann avancierte. Zur Filmbranche war es dadurch nicht mehr weit. Erste Filme mit Hark Bohm, Peter Lilienthal und schließlich 15 Streifen mit Rainer Werner Fassbinder. In „Martha“ probierte Ballhaus zum ersten Mal den Kreisel mit der Kamera um 360 Grad aus. Diese Bewegungen um Personen herum, mit ihnen oder über der Szenerie faszinierten ihn und er perfektionierte die Vorgänge nach und nach. Auch das Licht prägt und gestaltet die Geschichte, die der Künstler – nach seiner Meinung – vorher schon im Kopf haben sollte.

In den achtziger Jahren ging Michael Ballhaus in die USA und lernte dort die Größen des Filmgeschäfts kennen: Martin Scorsese, Francis Ford Coppola oder Robert Redford. Aus den gemeinsamen Projekten sind Filmjuwelen entstanden. Etwa „Quiz Show“ mit Redford, „Outbreak“ mit Wolfgang Petersen, „Die Zeit nach Mitternacht“, „Die Farbe des Geldes“, „Good Fellas“, „Zeit der Unschuld“, „Gangs of New New York“, „Departed – Unter Feinden“ mit Scorsese (insgesamt 7 Filme), „Bram Stoker' s Dracula“ mit Coppola. Aber auch Independent-Produktionen wie „Die fabelhaften Baker Boys“ mit Steve Kloves, die er zu einem visuellen Meisterwerk gestaltete. Oder die „Mambo Kings“ mit Arne Glimcher“. Deshalb konnte er sich unter der Berufsbezeichnung Bildregisseur ein internationales Renommee erschaffen.

Ein Beispiel für den visuellen Sog, den eine perfekte Bildinszenierung hervorbringt – viele Zuschauer werden das vielleicht noch im Kopf haben – ist der Kamerakreisel bei der Piano-Szene um Michelle Pfeiffer und Jeff Bridges in „Die fabelhaften Baker-Boys“. Sie singt „Makin' Whoopee“, räkelt sich im langen, hochgeschlitzten, roten Kleid auf dem Flügel, die Kamera fährt langsam um sie und den Pianisten herum, das Licht mal klar, mal rauchig, gegen Ende des Songs steigt sie neben Bridges herunter und lehnt sich mit dem Rücken an ihn. Da knistert was ganz intensiv, die Bildinszenierung läßt einen das spüren. Der gesungene Klassiker bildet das I-Tüpfelchen.

Für diesen Film um zwei Barpianisten, gab es eine Oscar-Nominierung für Ballhaus, eine von dreien. „Nachrichtenfieber“ und „Gangs of New York“ waren die beiden anderen. 2007 hat er dann –  als erster Deutscher – den Preis für sein Lebenswerk von der American Society of Cinematographers erhalten.

Der grüne Star, sein Damoklesschwert, fiel allmählich auf ihn herab. Die totale Erblindung drohte. Der Filmkünstler hatte allerdings noch einige Zeit, um dem Nachwuchs in den Filmstudiengängen, etwa in Hamburg, handwerkliches Können beizubringen. Nebenbei hat er sich mit seinem „Ballhaus-Projekt“ für den Klimaschutz engagiert.

Der Grandseigneur der internationalen Filmbranche war liebenswürdiger, charmanter Mensch – der Autor hat ihn selbst einmal bei einer Veranstaltung in Hamburg erlebt – der in seiner ruhigen Art vor gar nicht langer Zeit äußerte: „Alles hat seine Zeit. Und diese Zeit ist vorbei. Ich traure dieser Zeit nicht mehr nach. …“.

 

A United Kingdom (GB/Tschechien 2016, Kinostart 30.03.2017)
Regie:
Amma Asante
Filmbesprechung von Heinz-Jürgen Rippert
Hamburg, 14.04.2017

London 1947. Eine englische Büroangestellte lernt einen afrikanischen Studenten kennen. Der Beginn einer großen Liebe. Und gleichzeitig der Anfang eines Kampfes um diese Liebe und nicht nur darum. Der junge Mann stammt nämlich aus Bechuanaland (dem heutigen Botswana) und soll dort den Thron einnehmen. Das kleine Land im südlichen Afrika ist britisches Protektorat, wo die Apartheid genauso herrscht wie im angrenzenden Südafrika. Diplomatische Querelen sind vorprogrammiert. Es geht schließlich um Rohstoffe - und um eine wahre, fast märchenhafte Geschichte.

Es beginnt mit einem Tanzabend. Swing wird gespielt und die Londoner Büroangestellte Ruth Williams (Rosamund Pike) lernt den Jura-Studenten Seretse Khama (David Oyelowo) kennen. Eigentlich wollte Ruth nur ihre Schwester Muriel (Laura Carmichael) zu dieser Veranstaltung begleiten und ist dabei ihrer großen Liebe über den Weg gelaufen, dem zukünftigen Regenten von Bechuanaland, dem heutigen Botswana.

Die Hindernisse, die auf Ruth und Seretse zukommen, haben beide nicht absehen können. Rassismus im Londoner Alltag mit Pöbeleien und Beleidigungen. Das kommt einem doch irgendwie aktuell vor. Wir befinden uns aber hier im auslaufenden vierten Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts und das British Empire beginnt langsam zu bröckeln, anders  ausgedrückt, Großbritannien schwimmen allmählich die Felle weg. Die Weltlage ändert sich und die Regierung wertet es als diplomatische Provokation, wenn sich eine gemischt-rassige Ehe von dieser Tragweite anbahnt. Und Ruths Vater bricht mit seiner Tochter.

Denn gerade ein Jahr vorher, 1948, ist das Apartheid-System im benachbarten Südafrika installiert worden. Großbritannien ist nämlich von den dortigen Bodenschätzen abhängig. Bechuanaland hat den Status eines britischen Protektorates. Diplomatische Querelen bis hin zu Intrigen auf höchster Ebene sind also vorprogrammiert. Ruth und Seretse bekommen das bitter zu spüren, mit allen Mitteln versuchen die arroganten Machtinhaber, ihre Ziele durchzusetzen.

Umgekehrt ist die Situation auch nicht besser. Das Paar wird feindselig in Seretses Heimat empfangen und sein einflussreicher Onkel Tshekedi Khama versucht die geplante Thronfolge zu hintertreiben. Es ist dem feinfühligen Geschick von Ruth zu verdanken, dass sie den umgekehrten Rassenhass dort allmählich abbauen und eine Akzeptanz bei der Bevölkerung aufbauen kann. Auf Privilegien wollen sie sogar verzichten. Damit gewinnt ihr Mann ebenfalls den Respekt seiner Landsleute. Sie unterstützen ihn bei der Abstimmung über die Zukunft – sehr zum Ärger seines Onkels, der sich nun zurückzieht.

Die Briten versuchen das Paar zu trennen. Seretse wird nach London beordert, wo man ihm eröffnet, seine Heimat fünf Jahre nicht mehr betreten zu dürfen. Er geht an die Öffentlichkeit und gewinnt einen Teil der Abgeordneten und kann sogar Bechuanaland die Schürfrechte für eventuelle Bodenschätze sichern und darf zudem für eine Woche nach Hause fliegen. Dort gelingt es ihm, sich wieder mit seinem Onkel zu versöhnen, weil er auf die Thronfolge verzichtet, und dafür im Land bleiben kann. Ministerpräsident wird er künftig sein und mit Ruth vier Kinder haben.

Klingt wie ein Märchen, ist aber keins. Der afrikanisch-stämmigen Engländerin  Amma Asante („Dido Elizabeth Belle“) ist es vielmehr gelungen, eine historische Begebenheit mit einer tatsächlichen privaten Ebene zu verbinden. Konventionell gestrickt, solide gemacht, aber von unprätentiösen und hervorragenden Schauspielern wie David Oyelowo und Rosamund Pike getragen. Die verschiedenen Spannungskurven wie auch die emotionalen Schwankungen haben gerade sie wunderbar austarieren können. Ein Melodram voller Romantik, Leid und Triumph oder anders formuliert, ein Film für Herz und Hirn.

 

Die andere Seite der Hoffnung (Finnland 2016, Kinostart 30.03.2017)
Regie:
Aki Kaurismäki
Filmbesprechung von Heinz-Jürgen Rippert
Hamburg, 07.03.2017

Ob das wirklich der letzte Film von Aki Kaurismäki ist, wie er verkündet hat, bleibt abzuwarten. Zumindest bekommt man mit „Die andere Seite der Hoffnung“ einmal mehr einen typischen Kaurismäki. Flüchtlinge und Mitmenschlichkeit im Umgang mit Migranten hat er märchenhaft und voller Lakonie thematisiert. Wenig Worte und illustrative Bilder ergänzen sich zu einer ausdrucksstarken künstlichen Welt. Dafür gab es den Silbernen Bären für die beste Regie auf der diesjährigen Berlinale.

Nach „Le Havre“ ist es der zweite Film des finnischen Regie-Altmeisters, der sich mit dem Schicksal von Geflüchteten auseinandersetzt. Er bleibt nach wie vor seiner Devise treu, Außenseitern ein Gesicht zu geben und in seinen Geschichten zu erzählen, wie schwierig es ist, einen Platz, mag er noch so klein sein, in der Gesellschaft zu finden. Mit seinen trocken melancholischen und lakonischen Dialogen und den wie abwesend agierenden Figuren schafft er einen ganz eigenen, mit der Realität bissigen Umgang.

Der Kaurismäkische Kosmos wird stets von der typischen Blau- und Braunfarbigkeit dominiert, die sein Stammkameramann Timo Salminen auf 35 mm gebannt hat. Alleine daran erkennt man einen zeitlosen Film des eigenwilligen Regisseurs. Und an der Musik, die den akustischen Rahmen, ob nun mit Rock 'n' Roll oder Tango, bildet. Von daher weiß man nach spätestens zehn Minuten, wer Regie geführt hat, Listen über den Stab braucht man eigentlich nicht. Genauso wenig wie über die Darsteller. Sakari Kuosmane, Janne Hyytiäinen, Nuppu Koivu oder Kati Outinen gehören zum Stamm der eingesetzten Mimen. Längst vertraute Mienen für die Fans.

Nun also der Sprung von Le Havre zurück nach Finnland, einem Land, das ähnlich wie Resteuropa von Hass, bürokratischer Engstirnigkeit, Gewalt und Gleichgültigkeit heimgesucht wird. Kaurismäki widert das an, wie er bereitwillig bei Interviews äußerte. Zu sagen hat er immer etwas über die soziale Realität, die jeweils den Kern seiner Utopien befeuert.

Das Schicksal zweier Hauptfiguren bilden das Rückgrat seines neusten Werks. Versteckt unter Kohlen kommt der Syrer Khaled (Sherwan Haji) im Hafen von Helsinki an. Er ist auf der Flucht vor den Kriegswirren in Aleppo, hat aber unterwegs seine Schwester aus den Augen verloren. Er will Asyl beantragen, Hauptsache erstmal Frieden. Dann ist da der von der Midlife-Crisis betroffene Wikström (Sakari Kuosmane), der bisher als Vertreter für Oberhemden gearbeitet hat und nun ein Restaurant betreiben will. Seiner alkoholkranken Frau hat er den Ehering auf den Tisch gelegt. Sie reagiert mit einem weiteren Schluck aus der Wodkaflasche. Er sucht eine Pokerrunde auf und gewinnt – das Geld, das er für sein Restaurant braucht. Es heißt „Zum Goldenen Krug“. Khaled verliert. Sein Asyl-Antrag wird abgelehnt mit der Begründung, dass Syrien sicher sei. In den Büros der Polizei stehen im übrigen noch Schreibmaschinen auf den Tischen.

Im Hinterhof des Lokals, bei den Mülltonnen, treffen die beiden Flüchtlinge, Wikström ist natürlich auch einer – mit Hoffnung auf einen Neubeginn, aufeinander. Die Fäuste fliegen, jeder bekommt einen Haken. Dann sitzen sie drin am Tisch und Khaled bekommt einen Teller Suppe. Diese Details machen Kaurismäkis Filme aus. Minimalismus pur eben.

Wikström hat dagegen Pech beim Publikum mit seiner Speisekarte. Fleischklopse und Hering scheinen nicht mehr In zu sein. Also japanisch - Sushi läuft vielleicht besser. Im „Goldenen Krug“ erlebt die Belegschaft, bestehend aus altgedienten Darstellern, den Genuss von Solidarität. Und Khaled erhält auch einen kleinen Job.

Als Beispiele für die Absurditäten der Welt sei auf eine Nachrichtensendung im Fernsehen hingewiesen, mit einem Bericht über die tatsächlichen Brutalitäten in Syrien, sowie auf eine Begebenheit bei einer Kontrolle des Restaurants durch die Gesundheitsbehörde. Khaled wird mitsamt kleinem Hund des Besitzers in der Toilette eingeschlossen. Als er wieder befreit wird, verkündet der Syrer, er habe dem Tierchen inzwischen etwas Arabisch beigebracht. Daraufhin sei der Kleine zum Islam konvertiert, der Buddhismus ist wohl doch nicht das Richtige gewesen.

 

Der Hund begraben (BRD 2016, Kinostart 23.03.2017)
Regie:
Sebastian Stern
Filmbesprechung von Heinz-Jürgen Rippert
Hamburg, 31.03.2017

Hier sind einige Personen auf den Hund gekommen. Das Tier steht freundlich vor der Tür; der Hausherr vor der Tür der Firma, die ihn gerade entlassen hat; seine Frau vor mehr Abwechslung in ihrem Leben und dann gibt es noch einen geheimnisvollen jüngeren Mann, der in Lauerstellung steht. Er will auch in das Haus. Stoff für eine schwarze Komödie von dem jungen Autoren-Filmer Sebastian Stern.

Der Mann in der Midlife-Crisis. Hans (Justus von Dohnányi) ist so einer, um die fünfzig herum, hat gerade seine Stellung in einer Zellstofffabrik verloren wegen der Übernahme durch eine finnische Firma, traut sich nicht zu Hause - in einem typischen Mittelschichts-Häuschen – darüber zu reden und weiß nichts mit sich anzufangen. Seine Frau Yvonne (Juliane Köhler) lebt frustriert vor sich hin und Tochter Laura (Ricarda Zimmerer) hat einen Freund, den sie jetzt immer nach Hause bringt und der ständig Hunger hat.  Sie braucht ihren Vater eigentlich nicht mehr, behauptet sie lauthals. Hans kommt mit seinem Problem überhaupt nicht zu Wort. Also lässt er es.

Da steht eines Abends ein freundlicher Hund, ein Streuner, vor der Terrassentür und begehrt schwanzwedelnd Einlass. Anlass für die Dame des Hauses entzückt zu sein. Endlich ist da jemand, um den sie sich kümmern kann, so knuddelig der ebenfalls einsame Hund ist. Hans hat zumindest den traurigen Hundeblick mit dem Vierbeiner gemein. Das nützt ihm aber nichts. Er wird durch das Zotteltier ersetzt. Erst ist es ein Finne, der ihn in der Firma ersetzt, dann ein Hund in seinem eigenen Haus.

Yvonne freut sich jedenfalls über die neuen Aufgaben, die nun auf sie warten: Futter zubereiten, Spazierengehen, Stöckchen-wegwerf-und-hol-wieder-Spiel, Erfahrungen mit anderen Hundebesitzern austauschen und Schmusen. Mit ins Bett darf der Vierbeiner natürlich auch.

Und was macht der frustrierte Hans? Das, was viele Männer in ähnlich neurotischen Zwangslagen so machen. Er besucht ein Autohaus, ist von der Verkäuferin ganz angetan und lässt sich ein schmuckes, schnelles Cabrio aufschwatzen. Er hat ja noch die Abfindung in der Tasche. Und Rasen macht Spaß.

Nicht immer. Denn plötzlich steht ein Hund auf der Straße. Hans kann nicht mehr rechtzeitig abbremsen. Es ist der Streuner. Oh je,  was für ein Schlamassel. Da lernt Hans durch Zufall den merkwürdigen Mike kennen – mal wieder ein typisch absurder Auftritt für Georg Friedrich. Der ominöse Typ erklärt sich bereit, für den überfahrenen Hund seinen Buckel hinzuhalten. Schließlich ist er selbst vom Universum betrogen worden. Und Hans entlastet.

Auf diese Weise kommt Mike in das Haus, verschweigt ebenfalls die Wahrheit und macht sich an Yvonne heran. Die Absurditäten überholen sich mittlerweile. Privatleben wird immer mehr zum Chaos und Hans droht durch Mike ersetzt zu werden. Wie schnell bricht eine bürgerliche Existenz zusammen. Wie schnell wird man ersetzbar. Wie schnell kann der Abstieg kommen. Universelle Fragen. Sebastian Stern lässt in seinem Film das Komische auf das Tragische prallen. Eine schwarze Tragikomödie ist dabei entstanden, die allerdings manchmal noch zu gutartig ist. Auch hätte dem Streifen hier und da etwas mehr Tempo gut getan. Das Tempo auf der Straße ist dabei natürlich nicht gemeint.

 

Nichts zu verschenken (OT: Radin) (FR 2016, Kinostart 06.04.2017)
Regie:
Fred Cavayé
Filmbesprechung von Thomas Barth
    Thomas   Hamburg, 23.02.2017
Quelle hier  ==>

Die Komödie von Fred Cavayé setzt Frankreichs strahlenden Komikstar Dany Boon gekonnt und mit viel Herz in einer wendungs- und temporeichen Handlung in Szene. (**** 4/5 Sternen)

Der Geiger François Gautier (Dany Boon) ist virtuos in seinem Fach, aber auch ein notorischer Geizhals. Eine Art Familienfluch lastet auf ihm, denn sein Vater war ein hemmungsloser Verschwender und seine davon entnervte Mutter nahm dem Fötus François noch im Mutterleib das Versprechen ab, niemals so zu werden wie ihr Ehemann. 40 Jahre später lebt der inzwischen erfolgreiche Geiger im geerbten Elternhaus, wartet abends mit dem Lesen von Rechnungsbelegen im Dunkeln, bis endlich die Laterne vor seinem Fenster eingeschaltet wird. Er spart an Strom, Essen, Kleidung und macht sich durch seinen Geiz allseits unbeliebt. Aber nicht bei allen: Die plötzliche Zuneigung der schönen Cellistin Valérie(Laurence Arné) droht Gautiers Gefühlswelt gehörig durcheinander zu bringen.

Geld auszugeben löst Panikattacken bei Gautier aus, so wundert man sich nicht, ihn in einer Einstellung auf der Couch eines Therapeuten liegend zu sehen. Wie sich herausstellt, ist es jedoch sein Banker - Gautier würde niemals Geld für eine Therapie ausgeben -, der dem Sparfuchs wiederholt seinen Kontostand vorlesen muss (250,456,- Euro). Der Banker gibt seinem besten Kunden jedoch keine Anlagetipps, sondern rät ihm sehr französisch, aber etwas berufsuntypisch, doch endlich mal etwas von seinem Geld auszugeben, etwa um die schöne Cellistin zum Essen auszuführen. Das leuchtet Gautier ein, doch er entwickelt lieber einen Plan, die schüchterne Kollegin kostenfrei auszuführen - was natürlich in einem Fiasko enden muss.

Als eines Tages ohne Vorwarnung die 16-jährige Laura (Noémie Schmidt, 25) vor seiner Tür steht und ihm offenbart, dass sie seine Tochter ist, will Gautier ihr kein Wort glauben. Er fürchtet einen Trickbetrug und versucht sie abzuwimmeln. Doch Laura gibt nicht auf und schlägt solange Lärm, bis ihr Vater sie aus Scham vor den Nachbarn einlässt. Es stellt sich heraus, dass sie die Frucht einer einzigen Liebesnacht mit einer fast vergessenen Jugendliebe ist, die, von ihm zur Kontrolle angerufen, die Geschichte Lauras bestätigt und Gautier an das damals von ihm verwendete abgelaufene Kondom erinnert. Er solle sich vier Wochen um Laura kümmern, da sie, die Mutter, mit ihrer Harfe auf Tournee nach Indien müsse. Höchst unwirsch lässt der geizige Geiger dies zu, verlangt sogar Miete von Laura. Doch diese wirbelt sein Leben auch in positiver Weise durcheinander, bis hin zu seiner Läuterung nach Enthüllung eines dunklen Geheimnisses.

Fred Cavayé und Dany Boon

Regisseur Fred Cavayé, bislang mit drei Thrillern aufgetreten, (Ohne Schuld, Point Blank, Mea Culpa), knüpft mit dieser Komödie an humoristische Kurzfilme früher Schaffensphasen an. Im Tempo seiner Inszenierung verknüpft er Spannung mit Herz und Humor. Dany Boon gibt mit Bravour den zwar sympathischen, aber zwangsneurotischen Pfennigfuchser. Frankreichs Top-Comedian Dany Boon schrieb 2008 Filmgeschichte mit seiner Komödie “Willkommen bei den Sch’tis” - mit Buch, Regie und als Darsteller: Mit 20 Millionen Besuchern löste er Louis de Funès als Publikumsliebling der Gallier ab (in Deutschland kamen immerhin noch 2 Millionen). Mit seinem Film “Der Superhypochonder” widmete er sich schon 2013 einem klassischen Komödienthema Molièrs. Nun, unter fremder Regie, beweist er auch Molièrs „Der Geizige“ gewachsen zu sein. Freilich nur im weitesten Sinne, denn anders als das um Werktreue bemühte „Louis, der Geizkragen“ (1980) von Louis de Funès, ist „Nichts zu verschenkennur dem Thema Geiz verpflichtet.

Fred Cavayé bewegt sich zwischen Märchen, Liebesfilm und Komödie. Man erinnert sich an Dany Boon in der genialen Actionkomödie „Micmacs - uns gehört Paris“ (2009, Regie Jean- Pierre Jeunet), aber auch an die Scheidungs-Komödie „Eyafjallajökull“ (2013, Regie Alexandre Coffre) wo Boon sich erbitterte Wortgefechte mit der Ex lieferte. Hier knüpfen seine Telefonate mit Lauras Mutter an, doch meist gibt sich Geiger Gautier wortkarg. Dies lässt eher an Rowan Atkinson denken, dem Boon in der französischen Fassung „Bean, le film le plus catastrophe1997 die Synchronstimme lieh.

Quasi als „Mr.Bean mit Baguette“ stolpert Boon jetzt geizig-egoistisch und dennoch sympathisch durch die Katastrophen seines Violonistenlebens. Eine Schlüsselszene von 1997 lebt im aktuellen Film andeutungsweise wieder auf: Mr.Bean ist im genannten Film ein Londoner Museumswächter, der -in den USA für einen Kunstkenner gehalten- eine Rede auf ein berühmtes Gemälde halten soll. Wider Erwarten verblüfft er Museums – wie Filmpublikum durch eine grandiose und anrührende Ansprache. Boon kann hier an seine Bean-Adaptation anknüpfen, wenn er – ähnlich absurd – plötzlich zum Hauptredner einer Spendengala wird. Regie, Haupt- und Nebenrollen überzeugen: Hochkomisch, fintenreich und mit viel Herzblut - eine empfehlenswerte Komödie aus Frankreich.

 

Aus dem Abseits - Ein Film über Peter Brückner
Die Suche des Sohnes nach dem verlorenen Vater
(BRD 2015, Kinostart: 03.12.2015)
Regie, Buch: Simon Brückner
Filmbesprechung von Klaus-Jürgen Bruder
PDF: http://www.film-und-politik.de/BRK-ADA.pdf
Hamburg, 03.12.2015

Wer ist Peter Brückner? Peter Brückner, das war der Professor für Psychologie in Hannover, der zweimal vom Dienst suspendiert wurde. Brückner war keineswegs, wie es gleich zu Anfang des Films behauptet wird: der „Vater“ der antiautoritären Bewegung, nicht der Stichwortgeber oder Rädelsführer. Er war Teil von ihr, aber war als viel Älterer (geb. 1922) selbst kein 68er, er gehörte dazu und fühlte sich dazu gehörig, begeistert, aber hielt er es bei ihnen nicht lange aus, wie er auf dem Tunix-Kongress (Ende Januar 1978 in Berlin) gesagt hatte.
Ein bißchen vergessen ist er heute. Er soll wieder erinnert werden, wird wieder aufgesucht. 2012 richtete die „Neue Gesellschaft für Psychologie“ in Berlin zum 30. Todestag Peter Brückners einen Kongress aus mit dem Titel „Sozialpsychologie des Kapitalismus – heute. Zur Aktualität Peter Brückners“. Und dort hat sein letzter Sohn Simon den Plan entwickelt, seine Erkundungen auf den Spuren seines Vaters zu einem Film zu verarbeiten. So ist der Film der Versuch, mit Brückner auch die 68er wieder in Erinnerung zu bringen und zugleich die persönliche Suche nach dem verlorenen Vater, den dieser Sohn nie bewusst erlebt hat, denn dieser ist bereits gestorben, als der Sohn erst 4 Jahre alt war.

Brückner nicht gekannt zu haben, die 68 nicht erlebt zu haben, teilt der Sohn heute natürlich heute mit seiner Generation, die weder in deren Selbstheroisierung gefangen noch in deren Verleumdung durch die Sieger gebunden ist. Und es scheint, dass diese Generation wieder beginnt, sich dafür zu interessieren, sich ein eigenes Urteil bilden zu wollen. Sie scheinen wieder neugierig, und immer mehr lesen sie die lange für „überholt“ erklärten Texte. Zumindest bei dem Kongress nahmen viele junge Studenten teil, mit der „Sozialpsychologie des Kapitalismus“ in der Tasche.

So ist Simon Brückner, ebenso wie seine Generation insgesamt, auf andere angewiesen, die die Zeit miterlebt haben, die seinen Vater noch gekannt haben: können sie ihm sagen, wie sein Vater gewesen war? Wer er gewesen war, oder erzählen sie ihm von einem Menschen, wie sie ihn sehen wollten? Man hat zuweilen das Gefühl, (den Eindruck), sie nehmen die Suche des Sohnes nach seinem Vater in ihre Regie. Sie haben es in der Hand, was er erfährt; er ist der staunende Lehrling.

Simon Brückner hat daraus einen Film gemacht mit Fotos und Filmen, die von Brückner existieren, die seine Existenz dokumentieren (sollen), mit einigen wenigen, ausgewählten, Personen, die ihm von Peter Brückner erzählt haben. Vielleicht im Spektrum etwas sparsam angelegt.
Seine Mutter Barbara Sichtermann, seines Vaters letzte Frau, sagt ihm, sein Vater sei ein „politischer Mensch“ gewesen. Was zeichnet einen „politischen Menschen“ aus? War er kein richtiger Vater, wie er von seinem Stiefbruder erfährt, der ihn noch bewusst erlebt hatte und der das Kind Simon damals um die zärtliche Zuwendung, die der Vater Simon gezeigt habe, beneidet habe.

Ob er mehr darüber staunt, was sie Staunenswertes von seinem Vater berichten oder dass sie es gewesen sein sollen, die einen solchen erstaunenswerten Mann aus unmittelbarer Nähe erlebt haben. So unwirklich erscheint das Berichtete - gemessen an der prosaischen Gegenwart um ihn herum, unvorstellbar, unerreichbar im Augenblick des Interviews.

Eine Kluft scheint uns heute von jener Zeit zu trennen: dass Brückners Erscheinen derart irreal geworden ist, dass die Vorstellung, der leere und kalte Innenhof der Universität Hannover, den Simon von Alfred Krovoza geführt durchschreitet, mit Teilnehmern eines teach-ins bis auf den letzten Winkelgefüllt ist, „und das über mehrere Stunden“.

Wie erratische Blöcke erscheinen die Zitate Brückners vor dieser erkalteten Gegenwart, strahlend in ihrer Klarheit, treffsicher genau: Diese ganz und gar rücksichtslose Kritik der Verhältnisse und ihrer Profiteure und Mitläufer, getragen von einem „Wärmestrom“ des Brücknerschen „man empfange die Frage des anderen wie ein Geschenk, das es auszupacken gilt“. Seine Kritik war nachvollziehend, verstehend, auch oft beißend, nie aber „dogmatisch“, Rechthaberei lag ihm fern, eher die Haltung des „könnte es vielleicht sein?“, wie dies Brückner von der Psychoanalyse gelernt hatte.
Kritik als Selbst-Kritik zugleich verstanden, als Konstitution des Subjekts und Kritik der Verhältnisse, die dieses Subjekt hervorbrachten, deren Veränderung zugleich die Selbst-Veränderung zum Ziel hat. Solche Kritik war der Kern seiner „Theorie“, sie war aus der Kritik entfaltet. In die Kritik eingeschlossen waren auch Ansätze der Psychoanalyse - vor allem deren naturwissenschaftliche, biologische Seite die den Blick auf die sozialen Verhältnisse versperrt – obgleich oder gerade weil er der Psychoanalyse so nahe stand. Diese wiederum, auch die Psychoanalyse aus der Tradition der kritischen Theorie Frankfurter Provenienz, konnte damit so viel nicht anfangen, so saß er (auch) hier zwischen den Stühlen.

Als Kritiker war Brückner einer der wichtigsten Theoretiker der Neuen Linken der Studentenbewegung von 68 und zugleich ihr luzidester Kritiker an dieser selbst.

Er war ihr Begleiter, kritisch und sympathisierend zugleich. Als deutlich älterer hatte er seine Erfahrungen mit Herrschaft bereits unter dem Faschismus gemacht, dann auch (als Student) mit der DDR. Er war durch die bleierne Zeit der Adenauer Ära kurz davor zu resignieren, als Marktpsychologe: „wenn ich schon nicht mit diesem Staat leben kann, möchte ich wenigstens von ihm leben“, bis die Studentenbewegung für ihn eine Erlösung wurde aus der „inneren Emigration“. Als sympathisierender Begleiter versuchte er diese Bewegung durch kluge und überraschende Analysen zu fördern, sie vor Irrwegen zu schützen (wie dem der RAF) und sie zugleich vor den Angriffen des Staates – was zweimal mit seiner Suspendierung vom Dienst bestraft wurde.

Wieweit hat Brückner selbst dazu beigetragen, dass er weitgehend in Vergessenheit geraten ist? Diese Kluft, von der ich sprach, gab es schon damals: Er hat sich selbst gern als „einsam wandelndes Nashorn“ bezeichnet, als Querdenker, als einer der alles hinterfragt hat war er zuweilen auch unbequem, ging oft seine eigenen Wege. Hannover, die „Fünfte“ Fakultät, das – sozialwissenschaftliche – „fünfte Rad“ am Wagen der Technischen Universität, war ihm zu klein, der Enge ist er viel zu oft entflohen, er hatte viele Vortragsreisen zu den Universitäten in der ganzen Bundesrepublik gemacht, was ihm von den Zurückgebliebenen zum Vorwurf gemacht worden war: statt sich in Hannover mit den Mühen des Alltags zu konfrontieren, habe er das Bad in der Menge in Berlin oder sonst wo genossen.

Aber er hat auch nicht dafür gesorgt, dass Hannover für ihn ein fester Ort wird. Wie auch? In Hannover hatte er zwar einen Lehrstuhl, aber keinen Studiengang für Psychologie, deshalb auch nur „Nebenfach“-Studenten, die keine Beziehung zum Institut entwickelten, geschweige denn eine kritische. Unvorstellbar für uns, die wir Wissenschaftskritik uns selbst erarbeitet hatten: in Hannover stellten nicht die Studenten die kritischen Fragen an den Professor, sondern umgekehrt der Professor musste sich erst seine Studenten heranziehen.

Leider ist davon im Film nichts zu sehen, nichts über die Bedingungen, denen Brückner seine Bedeutung verdankt, (deshalb) auch nichts davon, weshalb er wieder in Vergessenheit geraten konnte.

Gleichwohl ist der Film sehr berührend, man erkennt Brückner in den Erzählungen der Begleiter und Schüler als Mensch, dessen Tod eine tiefe Wunde gerissen hat: sie haben ihn nicht vergessen. Und auch das zeigt der Film: die wunderbaren Zitate! Fast möchte ich sagen: sie seien das Wichtigste am Film, denn sie lassen erahnen: es lohnt sich, sie in seinen Büchern aufsuchen. Damit leistet der Film einen wichtigen Beitrag, Brückner dem Vergessen zu entreißen.

 

Krugovi Circles (Serbien/De/Fr/Slowenien/Kroatien 2013, Start: 17.04.2014)
Regie: Srdan Golubovic
Filmbesprechung von Jens Meyer
Hamburg, 17.04.2014

John Bosnien oder wie sich Fernsehredakteure den Krieg in Bosnien vorstellen oder das Böse ist meist unter dem Bett

Wie sieht das aus, wenn ZDF und Arte und sonst wer einen Film über Kroaten und Serben und sonst was machen? Das Erste, was ich bemerke ist, dass die Kroaten immer grimmig in die Kamera gucken. Man kann nicht erkennen, was sie vorhaben, doch (...)
weiterlesen unter dem folgenden Link:
http://www.film-und-politik.de/krugovi.pdf

 

Eine Frau flieht vor einer Nachricht
von David Grossmann (Hanser Verlag 2009)
Romanbesprechung von Regina Girod
Hamburg, 10.03.2012

Die anderen töten – und sich selbst

Eine Frau flieht vor einer Nachricht. So heißt das Buch des israelischen Autors. Und genau davon erzählt es auch. Zermürbt von Ängsten, verletzt und bestürzt vom Auseinanderbrechen ihrer Familie, flieht Ora vor der Nachricht, dass ihr jüngster Sohn bei einem Militäreinsatz gefallen sein könnte. Gerade war seine Dienstzeit zu Ende, die Gefahr, ihn zu verlieren, scheinbar gebannt, da meldet sich Ofer noch einmal- als Freiwilliger für eine Strafexpedition. Etwas in Ora weiß, dass er diesen Einsatz nicht überleben wird. In letzter Verzweiflung versucht sie, unerreichbar für die Überbringer der Todesnachricht zu sein, besessen von dem Gedanken, damit den Tod des Sohnes selbst zu verhindern. Mit Magie das Schicksal bannen; man fragt sich, ist die Frau verrückt?

Nach außen nicht, jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Sie bringt den Sohn persönlich zum Kommando und lächelt in die angerückten Kameras – wie es sich gehört. Im Innern aber steht sie mit dem Rücken an der Wand. Ohnmächtig und verzweifelt ist sie dem Wahnsinn wirklich nahe, ihre Flucht ist ernst gemeint. Fast mit Gewalt bewegt sie ihren alten Freund Avram, mit ihr auf Wanderschaft zu gehen. 30 Tage lang, solange wie Ofers Einsatz dauern soll.

Der Plot erinnert an die Märchen aus tausendundeiner Nacht. Um das Leben ihres Sohnes und um ihr eigenes Leben erzählt die Frau dem Jugendfreund auf ihrer Wanderung von Ofer – ihrer beider Sohn. Und natürlich von sich selbst und ihrem Mann Ilan, der einmal Avrams bester Freund gewesen ist. Scheinbar ohne Logik, rein assoziativ reiht sie Geschichten aneinander, gibt innerste Gefühle preis und lässt sich immer tiefer auf ihr Gegenüber ein. Avram soll, ja muss! verstehen, was sie alleine nicht verstehen kann. Ein sehr intimer Vorgang, der Leser wird hineingezogen in den Bund der beiden, die Offenheit der Frau bewirkt, dass er sich schutzlos fühlt wie sie. Was hat den Traum zerstört von einer hellen, freundlichen Familie? Warum soll Ofer sterben müssen?

Es geht nicht einfach um private Angelegenheiten in diesem Buch. Es geht um alles. Mehr als dreißig Lebensjahre von Avram, Ilan und Ora – und die ganze Zeit herrscht Krieg. Aus den Geschichten der drei Menschen flüstert, keucht und schreit die Frage: Was hat der Krieg aus uns gemacht? Sie sind 16, als sie sich das erste Mal begegnen, im Sechstagekrieg. Die Jungen wollen Künstler werden, beide lieben Ora und Ora sie. Dann das schreckliche Ereignis, das ihr Leben prägen wird. Avram fällt den Ägyptern in die Hände, am Suez 1973. Sie foltern ihn bestialisch. Er wird ausgetauscht und überlebt. Als gebrochener Mann.

Ganz zum Schluss, fast am Ende des Romans, wenn man schon glaubt, alles verstanden zu haben, kommt Großmann noch einmal auf jene Schlacht zurück, nach der Avram gefangen wurde. Und schildert sie mit voller Wucht in ungeheuerlichen Szenen. Avram ist verwundet. Er liegt im Niemandsland. Tagelang. Über Sprechfunk bettelt er um Hilfe, flucht und schreit. Er kehrt sein Innerstes nach außen. Was für ein Irrsinn! Ist da noch jemand, der ihn hört? Gibt es überhaupt noch Menschen in einer solchen Schlacht? Großmann weiß, wovon er schreibt. Aus Sicht der Kämpfenden lässt er den Krieg erstehen, voll Trauer, Wut und Mitgefühl. Und dennoch spürt der Leser jeden Augenblick: Was hier passiert, das muss nicht sein! Gerade das macht ja den Wahnsinn aus, er kennt keinen Grund. Nichts berechtigt Menschen, sich zu schlachten. Nichts und nirgends auf der Welt. Und doch herrscht Krieg. Was wird aus uns, wenn alle Normen brechen und solcher Irrsinn zum Normalen wird?

In den Geschichten seiner Heldin Ora, einer sensiblen Frau, geht Großmann dieser Frage nach. Im Alltag, nicht nur in der Schlacht. Sami ist ihr Taxifahrer, ein Palästinenser. Mit ihm erlebt sie Israel aus seiner Sicht. Als Araber ist er verdächtig, er wird verachtet und als potentieller Feind behandelt. Oras Wunsch nach einer menschlichen Beziehung zu ihm scheitert. Immer wieder. Sie kann ihn nicht bewahren vor den Gefahren und den würdelosen Szenen, die ihm widerfahren, während sie sich gegen ihren Willen auf der anderen Seite wiederfindet. Ein Volk, das andere unterdrückt, kann selbst nicht frei sein. So klar und einfach habe ich den Satz nie illustriert gefunden. Denn Freiheit heißt doch auch, menschlich handeln zu dürfen. An jedem Menschen, nicht nur jener Gruppe, der man gerade angehört. Ora sagt an einer Stelle, als Palästinenser müsse man ja verrückt werden von dem Ausmaß der Demütigung. Und jene, die die Grausamkeiten ohne Mitleid exekutieren? Was ist mit denen? Bleiben die „normal“?

Gewalt erzeugt Angst und Gegengewalt und noch mehr Angst und neue Gewalt und immer so fort. Es entsteht eine Art von kollektiver Verblendung. Nicht mehr begrenzt auf irgend eine Front, der „Feind“ steht ja im eigenen Land. So wird das ganze Leben von diesem Strudel aufgesogen, er reduziert das Menschsein auf die Frage: Täter oder Opfer? Oder beides?
Was für Bilder, was für Szenen, als die Selbstmordattentate Tel Aviv erschüttern. Eine Stadt gelähmt vor Angst und erfüllt von Hysterie. In dieser beklemmenden Situation fängt Ora an, Bus zu fahren. Scheinbar ohne Grund. Sie fährt die längsten Strecken ab, quer durch die ganze Stadt. Sie schwänzt die Arbeit, so übermächtig ist ihr Drang nach diesen Fahrten. Absurd? Ja. Und doch verstand ich das, was sie da tut auch als Akt der Selbstbehauptung. Hilflos zwar und unbewusst, dafür konsequent. Wenn wirklich keine andere Wahl mehr möglich ist, dann lieber Opfer sein.

Was bleibt denn jener Minderheit, die, aus welchem Grund auch immer, der Verblendung nicht verfällt? Weggehen? Durch das ganze Buch zieht sich das Bild des Exodus. Fortgehen. Alle Bindungen zerreißen, so wie Ilan und ihr älterer Sohn. Am Ende fliegen beide nach Lateinamerika, Rückkehr ungewiss. Doch Ora kann nicht weg, schon wegen Ofer nicht. Und Israel ist ihre Heimat. Sie liebt das Land, man spürt es immer wieder auf ihrer Wanderung. Alles aufzugeben hieße, die Wurzeln ihres Lebens abzuschneiden. Sie wollte doch nur ein normales Leben führen, was war daran verkehrt? Nach all den Jahren voller Kriege steht sie vor einem Abgrund. Und ihr Land, auch wenn es das nicht weiß, mit ihr.

Diese Frau kann sich nicht anpassen. An die Logik des Krieges und die Zerstörung aller Werte. Doch der Sog der Mehrheitsmeinung ist gewaltig. Ora selbst wird ihm nicht mehr erliegen. Nur die anderen um sie herum, sogar die eigene Familie, selbst Ofer! Ihr sensibler Junge, der kein Fleisch gegessen hat, weil er kein Wolf sein wollte- als Kind. Er half dem großen Bruder aus der Krise, als keiner ihm mehr helfen konnte, voll Zärtlichkeit und Mitgefühl. Und dieser Ofer schnitzt sich als Soldat im Urlaub einen Schlagstock. Das sei besser, als zu schießen, auf die aufgehetzten Kinder, die mit Steinen werfen. Ora fleht ihn an, im Kampf auf keinen Fall zu töten, wenigstens vorbei zu schießen. Und Ofer sagt: „Dann trifft der andere.“ Kann sie das wollen?

Es kommt zum Bruch. Bei einer Razzia sperren die Soldaten aus Ofers Einheit einen alten Araber in den Kühlraum eines Fleischers – und vergessen ihn. Ora ist verzweifelt. Dass ihr Sohn, gleichgültig wie die anderen, nicht mehr empfand, was er da tat, macht sie fassungslos. Einen Menschen dem Tod auszuliefern und ihn einfach zu vergessen – unbegreiflich! Doch ihr Mann hat nun genug von ihrer Hysterie. Er möchte, dass sie ihren Sohn verteidigt, der Alte hat ja schließlich überlebt. Mit solchen Widersprüchen kann er nicht mehr leben, diese Frau ist verrückt. Und er geht. Oras Traum von einer hellen, freundlichen Familie, in der die Schrecken der Vergangenheit, die ihre eigene Kindheit prägten, keinen Platz mehr haben, ist zerstört.

Doch die Flucht vor jener Nachricht, dass ihr Sohn gestorben ist, weil er selbst getötet hat, wird scheinbar gegen jede Logik zum Beginn von Oras Heilung. Denn Avram, der Geschundene, der um seine Hoffnungen Beraubte, dieser zutiefst verletzte Mann, er versteht sie. Weil er weiß, dass die Spirale der Gewalt in Exzessen endet, in denen selbst der letzte Funken Menschlichkeit verglüht. Bei allen. So hat er, wenigstens für sich, die Kette der Gewalt gesprengt. Und seinen Peinigern vergeben.

Während der Gespräche mit Avram versteht die Frau erst wirklich, was geschehen ist. All das Unbewusste, das ihr Handeln prägte, ihre scheinbare Verrücktheit. Sie begreift: Sie muss sich der Verblendung widersetzen, sie kann nicht anders leben. Doch jetzt ist sie nicht mehr allein. Denn auch Avram, der keinem Menschen mehr vertrauen konnte, findet nach Jahrzehnten einen Weg zurück ins Leben – auf dieser Wanderung und im Gespräch mit ihr.

Eine analytische Beziehung, in der zwei Menschen sich gemeinsam retten, das ist die eine Ebene des Romans. Doch sie ist David Großmann nicht genug. All die Geschichten seiner Heldin, voll Emotionen und voller Sinnlichkeit, ungeordnet, widersprüchlich wie das Leben selbst, sie wirken wie ein Sog, sich einzulassen auf den Weg, den Ora hier vor unseren Augen geht, hin zu dem klaren Satz: Es muss Schluss sein mit dem Krieg, auch wenn wir scheinbar siegen, töten wir uns selbst. Und echter Frieden braucht Gerechtigkeit, das heißt, der Stärkere gibt nach. Sonst bleibt man weiter eingesperrt in der Behauptung „Ich will den Frieden ja- aber der Feind, der will ihn nicht!“. Noch vierzig Jahre, oder fünfzig? Bis schließlich Norm geworden ist, was heute noch als Gräueltat gilt.

Zwei Generationen sind mehr als genug. Der Mensch ist in der Lage, sich zu korrigieren, warum nicht die Gemeinschaft? Wie ein Therapeut bemüht sich Grossmann, die ideologische Verblendung seiner Gesellschaft aufzubrechen, indem er spiegelt, was er sieht. Und auch sich selbst hat er mit eingebracht in den Roman, nicht nur als Autor. Ich denke jedenfalls, ich habe ihn erkannt – in dem alten Kinderarzt, dem Avram und Ora unterwegs begegnen. Der fragt die Menschen, die er trifft, nach ihrer größten Sehnsucht und nach dem, was sie bereuen. Und schreibt es auf.

Dieser Mann erkennt, wie gefährdet Ora ist und kann ihr doch nicht helfen. Vielleicht aber doch? Was ist denn wirkungsmächtiger als Kunst? Als ein solcher Roman?